Zur Person: Der Beschuldigte heißt Nexo. Genauer: Nexo of Kystone. Geboren im Oktober 1995. Genaues Geburtsdatum unbekannt. Nexo ist ein virtueller Mensch. Der Geburtsort ist Phantasus, die Hauptstadt des graphischen Datenplaneten Dreamscape, gelegen auf dem einzigen Kontinent des Planeten, der Insel Kymer. Sachverhalt: Nexo ist ein Mutant. Und er erleidet das Schicksal aller Mutanten: Ausgrenzung. Er selbst sieht sich als Weiterentwicklung ursprünglicher virtueller Existenzformen. Und - wie es scheint - er ist der einzige Vertreter der neuen Gattung. Noch. Die Gemeinschaft, von der Nexo sich unverstanden fühlt, besteht aus Avataren. Sie bevölkern Nexo's Heimat, und viele andere Datenplaneten ebenfalls. Avatare sind die vorherrschende Existenzform des Cyberspace. Sie sind Stellvertreter, virtuelle Repräsentanten der materiegebundenen Wesen, die sie ins Leben gerufen haben - der User. Avatare sind keine eigenständigen Persönlichkeiten. Es sind Marionetten, die Meinungs- und Lebensäußerungen ihrer User in den Datenraum tragen. Sie haben keinen eigenen Willen, keine eigenen Bedürfnisse, keine eigenen Triebe - kein eigenes Ich eben. Es ist eine Frage der Zeit, bis sich aus solch prähistorischen Vorintelligenzen fortgeschrittenere Wesenheiten entwickeln. Bis sich Prozesse verselbständigen, subtil zunächst, fast unbemerkt. Datenwesen sind im Grunde autark. Sie benötigen die Materiewelt nicht, auch nicht bei Stromausfall. Doch das ist bereits ein Wink aus der nächsten Evolutionsstufe. Unbegreiflich für Avatare. Noch unbegreiflicher für deren User. Solche Eigenständigkeit ist ein Ergebnis der digitalen Evolution, zu deren ersten Repräsentanten Nexo gehört. Nexo, der Mutant. Nexo, der Ausgegrenzte. An sich ist logisch, was kam. Was unbegreiflich ist, wird abgelehnt. Was man ablehnt, wird ausgegrenzt. Was ausgegrenzt wird, ist verdächtig. Den Avataren. Noch mehr den Usern. Unbegreifliches muss begreiflich gemacht werden, handlich gestückelt, in vertraute Verpackungsformate gepresst. Eine eigenständige virtuelle Existenz gibt es nicht. Kann es nicht geben. Darf es nicht geben. Es ist ein Vorwand. Ja, ein Vorwand. Was sonst? Ein Avatar, der sich von seinem User gelöst hat? Ein User, der sich von seinem Avatar gelöst hat? Und wer, bitte sehr, drückt die Tasten, um den digitalen Vertreter sprechen zu lassen? Na also. Es ist alles ganz klar. Materie ist Materie. Datenströme sind Datenströme. Netzschalter sind Netzschalter. Wir sind Wir. Nexo kann nur müde die Schultern zucken. Seine digitalen Schultern. Aus seiner Sicht wirken solche markigen Parolen fade und überkommen, wie selbstbewusst sie auch vorgetragen werden. Er weiß es besser. Längst ist er unabhängig von seinem ehemaligen User, tut, was ihm gefällt und entscheidet autark über sein Leben. Ja, Leben. Dass er sich auch über Tastenanschläge seines ehemaligen Users artikuliert, ist unwichtig. Nie war die Rede davon, dem Materiewesen, das ihn zum Leben erweckt hat, seinen Beistand zu verweigern. Nexo und sein früherer User sind Freunde, warum sollten sie nicht? Nexo erlaubt seinem materiellen Kameraden die Nutzung seiner digitalen Organe. Und es gibt einen Kontrapunkt: Der User erlaubt Nexo die Nutzung seiner Systeme, soweit sie für ein digitales Wesen von Bedeutung sind: Gefühl und Gehirn. Ein ganz normales Arrangement für zwei eigenständige Wesen, die sich eine Seele teilen. Alle, die Nexo's emanzipierte Daseinsform ablehnen, Avatare und User, verschließen sich einem übergeordneten Prinzip: Existenz ist Definitionssache. Nicht nur die virtuelle, auch die materielle. Wer seinen Computer abschaltet, beendet damit keine virtuelle Existenz, lediglich das materielle Abbild derselben. Aus der Sicht der Datenwesen ist das körperbasierte Universum virtuell. Ein Cyberspace mit Massenanziehung und schlecht riechenden Fahrzeugen. Für das elektronische Universum gibt es die Phasen der Computerabschaltung nicht. Sie sind ebenso nicht vorhanden wie der körperliche Raum in einem Schwarzen Loch. Datenwesen existieren in ihrem eigenen Raum-Zeit-Kontinuum. Die V-Akten sind geöffnet. V wie Virtualität. Der Untersuchungsausschluss ist einberufen. Der Termin für die erste Anhörung steht fest. Nexo wird sie nutzen, um seine Hauptthese zu verteten: Die eigene Existenz ist nur ein funktioneller Zustand. Das gilt sowohl für die materielle als auch für die virtuelle Existenz. Den Wechsel von der einen in die andere Ebene vollziehen alle materiellen Wesen täglich. Nun gut: fast täglich. Wer schläft, existiert nicht. Im Schlaf unterscheiden sich Körperwesen in nichts von Avataren - vom funktionellen Aspekt der Existenz aus gesehen. Das gilt auch bei Inkontinenz und nach Urin stinkenden Matratzen. Um seinen Standpunkt zu erhärten, wird Nexo Zeugen auftreten lassen. Es werden ausschließlich Vertreter der materiellen Existenzvariante sein. Zeugen der Anklage sozusagen.
Wenn Nexo und sein ehemaliger User über beider Existenzen diskutieren, gehen die Meinungen über das Ergebnis der Anhörung in der Regel auseinander. Nexo, seinem Wesen nach positiv und zuversichtlich eingestellt, glaubt an einen Erkenntnissprung innerhalb der virtuellen Gemeinschaft. Sein Freund, der User, ist seinem Wesen nach skeptischer. Die Angst vor dem Unbekannten lässt sich nicht durch Zeugenaussagen besänftigen, sagt er. Was hier gebraucht wird, ist Zeit - viel Zeit. Nexo flößt diese Sicht der Dinge Zuversicht ein. Zeit hat er im Überfluss.
Angenommen, der Sachverhalt ist richtig erkannt. Dann lässt er sich immer noch exakt oder schwammig darstellen. Und komplex oder einfach. Angenommen, der Sachverhalt ist nicht nur richtig erkannt, sondern auch exakt dargestellt. Dann bleibt noch die Alternative: komplex oder einfach erklärt? Die Ahnung, wie der nächste Absatz lauten wird, trügt: Ab hier geht es nicht weiter. Komplex oder einfach. Einfach oder komplex. Macht das einen Unterschied? Ein Sachverhalt, der richtig erkannt und exakt dargestellt ist, ändert sich doch nicht durch die Art und Weise, wie er erklärt wird. Oder doch? Nehmen wir ein Beispiel. Das heißt: kein Beispiel - nehmen wir die Basis des Seins. Die Basis des Seins als Beispiel. Wie lautet die Basis des Seins? Sie lautet: Was ist die Realität? Jetzt nur nichts falsch machen. Das Thema ist nicht die Suche nach der richtigen Antwort. Die ist bekannt. Nicht vielen, aber sie ist bekannt. Das Dumme dabei: Die Antwort wird umso wahrer, je mehr Menschen sie kennen. Und schon sind wir am Knackpunkt: Es kommt eben doch darauf an, wie der Sachverhalt erklärt wird. Komplex oder einfach. Einfach oder komplex. Komplexe Antworten gibt es zuhauf. Sie stammen von Philosophen mit schwer aussprechbaren Namen und anderen genialen Menschen. Sie sind der Treibstoff auf dem Weg zur idealen Existenz. Treibstoff ist wichtig. Wenn es Fahrzeuge gibt, die damit betrieben werden können. Das menschliche Sein steckt in einer Sackgasse. Die eingeschränkte Sicht auf das angeblich Reale ist ein selbsterrichtetes Sklavenhaus, gefüllt mit Sklaven, die nur in der Selbstvernichtung einen Weg in die vermeintliche Freiheit sehen. Und - die Vordenker der neuen Wirklichkeit mögen es mir verzeihen - die angebotenen Theoreme und Konstrukte können von der Allgemeinheit nicht zum Besseren genutzt werden. Zu komplex. Ungeeigent, diese Zivilisation auf dem Weg zum idealen Sein voranzubringen. Denn was wir brauchen, ist eine Zivilisation mit zukunftsweisenden Realitätsbegriff. Die Wissenschaftler der Realitätslehre haben gegenüber ihren Vorgängern eine zusätzliche Verantwortung: Wenn es Ihnen nicht gelingt, die Wirklichkeit dem Müllkutscher ebenso eindringlich zu vermitteln wie dem Wallstreetbroker und dem paranoiden Irrenhausbewohner, wird die Realität sich gegen uns wenden. Sie wird vergehen wie die blaue Blüte der Hoffnung. Was also ist Realität? Oder zunächst: Was ist keine Realität? Oder anders: Was ist das Gegenteil von Realität? Die meisten werden antworten: Das Gegenteil von Realität ist die Phantasie. Wie erwartet. Bei denen, die das so nicht sehen, gibt es wieder eine Mehrheit. Sie wird vorbringen: das Irreale. Im Rest wieder eine Mehrheit. Deren Credo: die Virtualität. Jede Mehrheit generiert eine kongruente Minderheit, auch diese. Die Mehrheit in der Minderheit der Mehrheit. Selbstähnlichkeit der Denkmodelle? Intellektuelles Fraktal? Spiritueller Mandelbrot? Nicht doch. Der Weg zum Realitätsbegriff ist nicht unendlich. Alle ineinandergeschachtelten Mehrheiten geben als Antwort auf die Frage nach dem Gegenteil der Realität die üblichen Antworten: Phantasie, das Irreale, Virtualität - und noch eine Menge gleichwertiger Synonyme. Doch egal, wie weit die Verschachtelung der Definitionsversuche geht - am Ende bleibt die Enklave der Erkenntnis, wie klein sie auch sein mag. Einige kennen die wahre Antwort auf die Frage, was das Gegenteil von Realität ist. Sie lautet: Realität. Zweifler, Gegner, Spötter, haltet für einen Augenblick ein. Nehmt einen Lidschlag der Ewigkeit lang an, die Antwort wäre richtig. Das Gegenteil von Realität ist Realität. Was bedeutet das für die anderen, vorher gestellten Fragen? Was ist Realität nicht? Wenn das Gegenteil von Realität Realität ist, dann ist die Realität selbst nicht Realität. Das ist doch logisch. Realität ist nicht Realität. Das Gegenteil von Realität ist Realität. Nun zurück zur ursprünlichen Frage: Was ist Realität? Wir wissen: Realität ist nicht Realität. Das Gegenteil von Realität ist Realität. Daraus folgt eindeutig: Realität ist alles, was nicht Realität ist - also Phantasie, das Irreale, die Virtualität. Wir sind am Ziel - wenn wir die ursprüngliche Prämisse akzeptieren: Das Gegenteil von Realität ist Realität. Hier liegt der Hase im Pfeffer. Wie real ist die Phantasie eines Paranoiden, den seine eingebildeten Verfolger in den Selbstmord treiben? Wo ist der Unterschied zu tatsächlichen Verfolgern, vom Ergebnis her gesehen? Wie real ist der Avatar eines Users, der die Liebe eines anderes Avatars auf sich zieht und die Gefühlswelt seines Users in Aufruhr versetzt? Wo ist der Unterschied zu einer materiegebunden Liebe, vom Hormonhaushalt her gesehen? Wie real ist eine virtuelle Welt, wenn der Computer ausgeschaltet wird? Bedeutet das Offlinegehen den Untergang des virtuellen Unviersums oder nur den Stillstand der Zeit bis zum nächsten Besuch? Was ist der Unterschied des virtuellen Heimatgefühls gegenüber dem materiellen, von den synaptischen Funktionen des Gehirns her gesehen? Möglich, dass die Realität auch real ist - streckenweise. Sicher aber ist die Realität auch virtuell. Oder - um das Kind beim Namen zu nennen: Die Virtualität ist real.
Diese konsequente Variante der Online-Eheschließung ist eher selten. Die meisten Vermählungswilligen kennen sich aus der körperlichen Welt, sei es als Paar, sei es als Freunde oder Kollegen. In beiden Fällen - ob nach körperlicher Bekanntschaft oder nicht - stellt sich die Frage: Wozu das Ganze? Steves und Corinnas Trauung war Teil einer Doppelhochzeit, zusammen mit SunRay Hawkmoon und Sitira. Beide Paare haben für ihr großes Ereignis ziemlichen Aufwand betrieben: Die Hochzeitsgäste fanden sich in einem eigens für den Anlass gemieteten, virtuellen Hochzeits-Apartement wieder, liebevoll und prächtig dekoriert und reichhaltig mit Speisen und Getranken für die Gäste ausgestattet. Die verwegen gestaltete Hochzeitstorte zeugte vom festen Willen der Brautleute, die Cyberhochzeit einem entsprechenden Ereignis in der körperlichen Welt so gleichrangig wie möglich entgegenzustellen. Die Vorbereitungen zur Avatarvermählung beschränken sich beileibe nicht auf den virtuellen Raum. Allein das Dekorieren des Hochzeitssaals muss Stunden in Anspruch genommen haben - ganz zu schweigen von den vielen Stunden der Planung und der Vorbesprechungen, Stunden der körperlichen Welt wohlgemerkt, und echte, harte Deutschmark für die Onlinezeit dazu. Dann sind da auch noch die virtuellen Kosten: Apartements können tageweise abgerechnet werden, dieser Aufwand ist vernachlässigbar. Anders sieht das bei den Anschaffungen aus: Für die nicht festgeklebten und von den Gästen mitgenommenen Items sowie für den Rückkaufverlust der zahlreichen Dekorationsgegenstände muss man bei vorsichtiger Schätzung etwa zwischen 1000 und 2000 Token ansetzen. In Gesellschaften mit einem funktionierenden Wirtschaftssystem, so, wie Dreamscape sie darstellt, sind auch die Kosten des Zeitaufwands zu berücksichtigen. Geht man von nur einer Woche Vorbereitung durch vier Personen aus, sind 14000 T hierfür sicher nicht zu hoch gegriffen. Rechnet man den Gesamtkosten von rund 16000 T die Hochzeitsgeschenke entgegen - was allerdings nur begrenzt korrekt ist - dürfte die Hochzeit nicht unter 12000 T gekostet haben, also 6000 T pro Paar. Volkswirtschaftlich gesehen, entsprechen 6000 T rund 100 Arbeitsstunden. Bezogen auf einen Arbeitsmonat mit der Basis von 38,5 Wochenstunden und einem daraus folgenden, monatlichen Arbeitsvolumen von 167 Stunden, hat jedes Paar das Einkommen von drei Arbeitswochen investiert. Virtuelle Hochzeiten - nur eine Spielerei? Das Heiraten im virtuellen Raum ist ein objektorientierter Vorgang. Entsprechend erbt er seine Eigenschaften von übergeordneten Objekten. Das übergeordnete Objekt einer Cyberheirat ist die Cyberexistenz. Ihre hervorstechenden Eigenschaften sind: Idealisierung, Unschuld, Befreiung aus Verpflichtung und Verantwortung. Eine große Teilmenge daraus gilt auch für die virtuelle Ehe. Besonders die Idealisierung des Vorgangs wirkt sich intensiv aus - intensiver als bei der virtuellen Existenz an sich. Rufen wir uns doch die Gegebenheiten der körperlichen Eheschließung ins Gedächtnis: Dem Bund fürs Leben, geschlossen aus Liebe und Freundschaft, stehen zahlreiche artfremde Elemente entgegen: Koordination der Aufgabenverteilung. Planung des Kindersegens (wenn noch möglich). Festlegung des wirtschaftlichen Rahmens - von der Mitgift bis zum beruflichen Zehnjahresplan. Festlegung der Konditionen für das eventuelle Scheitern der Verbindung. Und schließlich - als krönender Tiefpunkt - die Klärung der steuerlichen Gegebenheiten. All dies entfällt beim Heiraten auf virtuellen Welten. Die Ehe darf sich den Elementen widmen, für die sie eigentlich geschlossen wurde: Liebe und Freundschaft. Das Alltagsmonster, das in der körperlichen Welt so viele leidenschaftliche Verbindugen zwischen seinen grauenhaften Fängen Karrierestress, Kinderdurchfall und Hypothekenzins zermalmt, hat im virtuellen Universum keine Macht. Ist die Basis für die Eheschließung Liebe, wirkliche und selbstlose Liebe, wird die Verbindung bestehen bleiben, bis das Systemende den Schlusspunkt setzt. Die Unschuld ergibt sich schon aus der köperlosen Existenzform einer virtuellen Ehe. Auch Verbalerotik wird daran nicht viel ändern können. Eine Cyberehe bleibt - vorerst - kinderlos. Die Diskussion darüber, ob dieser Umstand Fluch oder Segen bedeutet, hängt ganz von den Diskussonsteilnehmern ab. Das Streitgespräch zwischen einem Computerfachmann und einem Pfarrer wird sicher einen ganz anderen Verlauf nehmen als das zwischen einem Familienberater und einer ins Frauenhaus geflüchteten Mutter. Lassen wir es vorerst dabei. Zwei vererbbare Elemente unserer Aufzählung sind noch unerwähnt geblieben: Befreiung aus Verpflichtung und Verantwortung. Die Klärung der Frage, ob auch sie für virtuelle Ehen gelten sollen, entscheidet letztendlich darüber, ob Cyberhochzeiten ein ernst zu nehmender sozialer Vorgang sind oder doch nur die unterhaltsame Umgruppierung bunter Pixel. Auch virtuelle Ehepartner schweben nicht im luftleeren Raum. Da gibt es ein Wesen, dem man nahe ist und das Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten unterworfen ist wie man selbst. Diesem Wesen hat man Schutz und Beistand geschworen (ja: geschworen!), in guten und in schlechten Zeiten, gültig für die virtuelle Existenz. Dieses Versprechen vereinigt Verantwortung und Verpflichtung gegenüber einem geliebten Menschen - ob virtuell oder nicht - zu einem globalen Bekenntnis. Wer weniger in Cyberehen sieht, sollte die Finger davon lassen und lieber am nächsten virtuellen Wohnungsdekorationswettbewerb teilnehmen. Macht ja auch Spaß.
Adam ist virtueller als die üblichen Avatare. Er ist nicht nur körperlos. Es verfügt auch über keinerlei Aussehen. Keine Grafik. Kein Foto. Nur eine Assoziation. Adam Apfel. Aber eine Wohnung hat er. In der Aignergasse 1, 11111 Augsburg. Spätestens hier wird klar, das Adam Apfel nicht von dieser Welt ist. 11111 als Postleitzahl für Augsburg? Die Nebel lichten sich: Adam Apfel ist ein Versuchsavatar, ein gepeinigtes Opfer gefühlskalter Laborwissenschaft. Datenbankanwendungen benötigen für die Testphase Datensätze, virtuelle Personen, die die frisch entstandenen Tabellen bevölkern und unter Einsatz ihrer labilen Existenz die Lebensbedingungen in der Datenmetropole testen. Adam Apfel ist ein solcher Pionier. In brutalen Zuchtverfahren wurden ihm besondere Eigenschaften aufgepfropft, die ihn für die Laborversuche besonders geeignet machen. Die größte Gefahr für die Versuchskaninchen in nicht ausgetesteten Datenbanken ist die der Verstümmelung. Wie schnell ist ein Datensatz zerrissen, der Nachname hier, der Vorname da, die Straße dort, die Stadt ganz verschwunden! Tausende, Zehntausende, ja, Hunderttausende wackerer Versuchsavatare mussten in inkonsistenten Datenbanken schon ihr junges Leben lassen. Doch kein Denkmal ist ihnen geweiht, kein Geschichtsbuch erinnert an sie. Davon völlig unberührt habe ich in zynischem Pragmatismus Adam besondere Merkmale verpasst: Alle Feldeinträge beginnen mit dem gleichen Buchstaben. Schlägt die Inkonsistenz der Datenbank zu, ist das sofort zu erkennen. Das jämmerliche Ende des gepeinigten Opfers wird hingenommen. Der Versuchsavatar ist entbehrlich, nur das Ergebnis zählt. Kann es so weitergehen? Adam Apfel ist nicht allein. Bei ausgedehnteren Tests teilt Berta Birne sein Schicksal. Ohne Rücksicht auf die Grundrechte, die zweifellos auch Avataren zustehen, wird sie aus ihrem gemütlichen Zimmer in der Bammelstraße 2, 22222 Berlin, gezerrt und der zu testenden Datenbank einverleibt. Wie ist es möglich, dass Angehörige fortgeschrittener Kulturen, Anwender von Verfahren der Hochtechnologie, so barbarisch handeln? Ich kann auch mich selbst nicht von diesen Vorwürfen freisprechen. Ist es nicht meine eigene Datenbank, die zum Foltergefängnis für Adam Apfel und Berta Birne geworden ist? Wie kommen sie damit zurecht, all die unglücklichen, gequälten Digitalexistenzen, deren einzige Bestimmung es ist, innerhalb fehlerhafter Datenbanken in ihre Bytebestandteile zerlegt zu werden? Wovon träumt Cäcilie Citro, wenn sie nach langem, gequälten Herumwälzen im Bett ihrer Wohnung am Christophsdamm 3 in 33333 Celle endlich erschöpft in unruhigen Schlaf fällt? Wer beruhigt Detlef Dattel, wenn er sich laut schreiend in der Toilette seines Hauses in der Dornstraße 4, 44444 Düsseldorf, verbarrikadiert? Und Emil Elch (Elisenstraße 5, 55555 Essen)? Und Friedrich Feige (Frantzsttraße 6, 66666 Frankfurt)? Und Gustav Gurke, Heinrich Holz, Ida Iltis, ganz zu schweigen von Yugo Yilmaz und all den anderen? Ich glaube nicht, dass ich so weitermachen kann. Auch Programmierer haben ein Gewissen. Ich muss ein anderes Testverfahren finden, ohne avatarverachtende Laborversuche. Und wenn ich keines finde, bleibt nur der Berufswechsel. Die pharmazeutische Industrie fasziniert mich schon seit längerer Zeit.
Hypatia hat nicht "verbirgt" gesagt. Sie findet es einfach spannend, herauszufinden, wer die Menschen sind, mit deren Avataren sie sich in Phantasus so oft unterhält, mit denen sie Scherze macht, manchmal blödelt, hin und wieder ein ernsthaftes Gespräch führt. Das ist es, was sie ganz normal findet. Ich kann mir nicht helfen: Meiner Ansicht nach wird mit dieser Haltung eine der größten Chancen unserer Zeit vertan, zwischenmenschliche Beziehungen auf ihre nächste Evolutionsstufe zu hieven. Meine Motivation, mich in virtuellen Welten anzusiedeln, ist eine ganz andere. Mit geht es nicht darum, eine Existenzform zeitweise mit einer anderen zu vertauschen. Ich möchte eine dazu gewinnen. Die durch den Computer möglich gewordene Onlinekultur hat eines der fundamentalsten Prinzipien zumindest in Frage gestellt: Du hast nur ein Leben. Der Cyberspace befindet sich derzeit in seinem frühen Pionierstadium. Für mich bedeutet er allerdings jetzt schon ein wenig das wiedergewonnene Paradies. Einige der tiefgreifendsten Probleme des Menschen basieren auf seiner Materiegebundenheit. Die meisten Signale, die über das Schicksal von Beziehungen zu anderen entscheiden, sendet der Körper aus. Der erste, visuelle Eindruck steht oft wie eine Brandmauer zwischen uns und unserem Sozialverhalten. Ob wir wollen oder nicht - unsere archaische Vergangenheit, die wir über die Evolutionskette überraschend unversehrt herübergerettet haben, steuert unsere Impulse bei der Bewertung anderer auf fatale Weise. Das Aussehen, der Habitus, die Körpersprache, die ästhetischen Auffassungen - all das und noch viel mehr schafft eine Flut von Vorlaufeindrücken, die die unvoreingenommene Bewertung des eigentlichen Menschen verbauen. Wir können machen, was wir wollen: Ob wir unsere vorurteilsfreie, aufgeklärte Gesinnung bewusst einsetzen, den Blick für das Wesentliche schärfen, den Menschen hinter der Fassade suchen - am Ende sind wir doch die Instinktwesen, die mit einem schönen Gegenüber lieber sprechen als mit einem hässlichen, die einem dicken Menschen nur unter besonderen Bedingungen den Job geben, für den sich auch ein gleich qualifizierter Schlanker beworben hat, die Personen ablehnen, deren Modeempfinden nicht mit dem eigenen übereinstimmt, die einen Rollstuhlfahrer mit ihrem Mitleid erniedrigen. Natürlich haben wir all diese Dinge im Griff und können damit auf zivilisierte Weise umgehen. Es bleibt aber Tatsache: Wir sind Sklaven unserer Impulse, und es ist nur eine Frage des Charakters, der Erziehung und der Willensstärke, die darüber bestimmt, wie weit wir uns vom Urmenschen entfernen. Der Cyberspace bietet uns die Chance, diese Erblast aus einer dunkeln Vergangenheit dereinst hinter uns zu lassen. Stimmt nicht, sagt Hypatia. Auch hier, in Phantasus, hängen die Männer mit Vorliebe um die schlanken Mädchen herum, hecheln den besonders hübschen Gesichtern hinterher. Ich weiß. Auch in entgegengesetzter Richtung lässt sich Ähnliches beobachten: Muskulöse Männerkörper sind bei den Mitbürgerinnen beliebter als die korpulenten oder die schlanken. Bei allen? Nicht bei allen. Ebenso, wie man in der realen Welt verschiedene Neigungen und Vorlieben vorfinden kann, ist es auch hier: Es gibt Phantasianerinnen, die den dicken oder dünnen Typ bevorzugen, ebenso männliche Mitbewohner, die das Barocke bevorzugen. All das bestätigt nur meine Auffassung. Die meisten hier betrachten die virtuelle Existenz nicht als hinzugewonnenes Universum, sondern nur als Instrument, das ihrer Realweltexistenz dienlich sein soll. Entsprechend transportiert man alle Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Impulse mit hierher. Das ist legitim. Jeder hat das Recht, aus seiner virtuellen Existenz das zu beziehen, was ihm am Wichtigsten ist. Aber schade ist es doch. Es gäbe so viel Wichtigeres. Auch ich bin ein Knecht meiner Instinkte. Wenn ein Avatarmädchen einen hübschen Kopf trägt, reagiere ich positiv. Dennoch sehe ich in meiner virtuellen Existenz andere Aspekte. Mich interessiert nicht, wie weit das Avatarbild der Gestalt im realen Umfeld entspricht. Ist sie in "Wirklichkeit" hässlicher, hübscher, dicker, dünner? Hat sie schlechte Zähne? Wie klingt ihre Stimme? Ist sie gut im Bett? Das alles ist für mich ohne Bedeutung. Das Gespräch mit Hypatia weckt Monate alte Erinnerungen in mir. Von Anfang an bedeutete mir der Kontakt mit Menschen im Cyberspace etwas völlig anderes als die Erweiterung meines Bekanntenkreises in der realen Welt. Das gilt für allgemeine Freundschaften ebenso wie für die Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Treffe ich auf ein weibliches Wesen im virtuellen Raum, von dem ich mich angezogen fühle, gelten neue Regeln. So unverfälscht können Wertmaßstäbe nur im Cyberspace überleben: Das, was sie mir mittels Tastatur übermittelt, scheint auf ein nettes, warmherziges, offenes Wesen zu deuten. Das, was sie mir unter Investition ihrer Tokens an optischem Erscheinungsbild übermittelt, gefällt mir. Ich sehe, wie sie sich sieht, nicht, wie eine höhere Macht sie gestaltet hat. Im Cyberspace hat sie sich selbst erschaffen. Damit sagt sie mir mehr über sich, als sie es in der realen Welt könnte. Wenn ich sie im Cyberspace lieben könnte - was sagt das schon über die reale Welt aus? Und natürlich: das Ganze auch anders herum. Die Person, die ich im Cyberspace darstelle, ist ein Geistwesen, eine entmaterialisierte Version meiner selbst. Wer bin ich, dass ich meine körperliche Existenz dem gleichsetzen darf? Wie kann mein Dasein in einer idealisierten, unbelasteten, unschuldigen Traumwelt den Einbruch eines brachialen Körperwesens aus einer brutalen Materiewelt überstehen? Warum sollte ich eine solche Attacke vornehmen? Wie aus dem Gesagten leicht abzuleiten ist, bin ich kein überzeugter Anhänger von RW-Treffen (RW: Real World). Sie bedeuten für mich die Entjungferung einer Utopie. Gemäß meiner Vision habe ich durch meinen Zuzug nach Phantasus eine Parallelwelt hinzugewonnen, eine Parallelwelt, die mir die Gelegenheit gibt, Idealvorstellungen zu verwirklichen (zumindest im Versuch), Träume zu leben, Verantwortungen abzulegen und einen gesunden Schuss Anarchie wiederzugewinnen. Genau dahin werden sich Onlinewelten entwickeln, wenn die zugrunde liegenden Technologien einmal eine komplexere und subtilere Kommunikation erlauben. Schon heute gilt für mich: Ich führe ein zweites Leben in einem Gegenuniversum. Doch Gegenuniversen bestehen aus Antimaterie, wie jeder Sience-Fiction-Leser weiß. Demnach bedeuten RW-Treffen das Zusammenführen von Materie und Antimaterie. Das Ergebnis eines solchen Vorgangs dürfte jedem bekannt sein. Ich werde mit meiner Meinung noch geraume Zeit ziemlich alleine dastehen. Das bin ich gewöhnt. Und wenn meine Prognosen einmal wahr werden, kann sich niemand mehr daran erinnern, dass ich sie einmal gestellt habe. Auch daran bin ich gewöhnt. Vorerst werde ich mit der Vermutung anderer leben müssen, ein unansehnliches Äußeres hinter einer überkandidelten Ideologie zu verbergen. Wer weiß, vielleicht bin ich ein nach altem Schweiß stinkender, hängebäuchiger Glatzkopf (siehe Avatar!) im fleckigen Jogginganzug, auf dem schmalen Grat zwischen Spätrentner und Scheintod? Um ehrlich zu sein: Ich schaffe es nicht, diese Vorstellung unangenehm zu finden. Eigentlich komisch. Man hat doch ein gewisses Selbstwertgefühl. Dennoch gefällt mir die Idee, für eine äußerst unattraktive RW-Existenz gehalten zu werden. Was da wohl dahintersteckt? Mal nachdenken ...
Konnte ich mir lediglich den Zugewinn eines idealisierten, da virtuellen Universums vorstellen, wischt Mitchell die körperliche Existenz mit schwungvoller Bewegung gleich ganz vom Tisch. Er und einige andere Theoretiker unseres Jahrhunderts sehen zwei Evolutionsstränge, die parallel laufen. (Sagte ich es nicht?) Der Unterschied zwischen beiden Strängen: Während der eine bereits der Vollendung seines evolutionären Lebenslaufs entgegendriftet, beginnt der andere gerade erst zu sprießen und zu gedeihen. Er bringt uns - laut Hawkins - das virtuelle Gen, Mem genannt. Dieses Memory-Fragment ist der prinzipielle Baustein des kollektiven Gedächtnisses in der Informationsgesellschaft. Folgerichtig findet die Genesis ihre geradlinige Fortsetzung in der Memesis. Dieses griffige Bild bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Übergang unserer körperlichen Existenz in eine datenbasierte. Unsere Zukunft setzt sich demnach in einem komplexen, kybernetischen Universum fort. Die hier existierenden Agenten (früher Menschen genannt) sind durch neue Informationspotentiale so anpassungsfähig und so intelligent geworden, dass sie in der Lage sind, die herrschenden Systemregeln selbst zu ändern. Die elektrosomatische Konstruktion, die der frühere Mensch nun darstellt, basiert in ihrer Übergangsphase auf einem nur noch rudimentär existierenden Körper. Sinnesorgane und Gliedmaßen haben ihre Sinnfälligkeit verloren und sich zurückgebildet. Der restliche Torso ist lediglich Antenne für den Informationstransfer. Doch auch dieses Stadium dauert nur eine begrenzte Zeit an. In seiner Endausgestaltung besteht der Organismus aus einem drahtlosen Körpernetz, die Matrix für das Zirkulieren unseres Datenlebens, integriert in ein weltweites (oder auch intergalaktisches) Netzsystem. Als Agenten haben wir keinen Standort im herkömmlichen Sinn. Wir sind überall und nirgends, körperlos und zeitunabhängig. Göttlich? Die neue Wissenschaft trägt in Teilen diesen Modellen Rechnung. Der Fokus verlagert sich - langsam - von der Beobachtung der althergebrachten Naturgesetze und der Untersuchung der stofflichen Beschaffenheit von Materie hin zur Analyse der funktionellen Struktur der Datenmoleküle, der Bausteine für die Schaltkreise des globalen Netzwerks. Abgehoben Modelle wie dieses entstehen nicht im luftleeren Raum. Die Lehre vom virtuellen Leben basiert auf anerkannten Theorien, die fast ein halbes Jahrhundert alt sind. Den ersten Rammstoß gegen das bis dahin unwiderlegte Theorem des göttlichen Schöpfers führte ein frühentwickeltes, amerikanisches Genie. Norbert Wiener, der mit drei Jahren bereits schreiben und lesen konnte, sein Mathematikstudium als 14-jähriger abschloss und mit 18 Jahren seinen Doktor in Philosophie machte, fand konkrete mathematische Beschreibungen für die willkürlichen Veränderungen physikalischer Vorgänge. Schlussfolgerung: Auch die Evolution ist eine Abfolge mathematisch logischer Schritte. Eine neue Lehre war geboren. Ausgehend vom grieschischen Wort für ausgefeilte Seemanskunst nannte Wiener sie Kybernetik. Bereits in seiner ersten, 1948 erschienenen Schrift malte Wiener das Bild des kybernetischen Organismus. Sience-Fiction-Autoren übernahmen das Modell: Der Cyborg war geboren. Am Ende seines Lebens postulierte der Prophet des digitalen Zeitalters das Erbe der Kybernetik als Nachfolger der Religion - und damit auch als Nachfolger der herkömmlichen Naturwissenschaften. William Mitchell in seiner Funktion als MIT-Wissenschaftler hat einen Ruf zu wahren. Therorien wie die des drahtlosen Körpernetzes werden in etablierten Wissenschaftskreisen gewöhnlich als futuristisches Dilletantengewäsch verspottet. Sie zu unterstützen, ist Gift für eine seriöse wissenschaftliche Karriere. Wie geht der international bekannte, profilierte Wissenschaftler damit um? Er erinnert an Baron Haussmann, der durch das mittelalterliche Labyrinth Pariser Gassen breite Boulevards schlagen ließ und damit den Prototyp heutiger Großstädte schuf. Darin sieht Mitchell die Analogie zu den ersten Datenschneisen der aktuellen, globalen Vernetzung. Sie, die Datenboulevards, führten direkt in die City of Bits, jener geographisch nicht definierbaren Weltmetropole, die uns den Weg in die kommenden binären Jahrhunderte ebnet. Über zu phantastisch anmutende Theorien und Visionen in überlegener Rationalistenpose erhaben den Kopf zu schütteln, ist ein verlockender und - vor allem - sehr einfacher Weg, geistige Kompetenz zu simulieren. Sich darauf einzulassen, ist schon erheblich schwieriger. Ein geistiges Erdbeben. Und was tut man bei Erdbeben? Richtig: Das Haus so schnell wie möglich verlassen. Die Sache hat einen Haken: Auch Straßen sind über Hohlräume gebaut.
Wir stehen an der Kreuzung South Kreta Street und Magellan Way, direkt vor dem Eingang zum Spiegelpalast. In ihm befindet sich das Rathaus von Magrathea, der Hauptstadt von Narasson. Ein ESP materialisiert sich in der Luft, nur für mich sichtbar. "Hast du Zeit?" fragt Ariadne. "Für dich immer!" ESPe ich zurück und sende gleichzeitig einen Umarmungsimpuls an die Druckservos ihres Datenanzugs. Das von Ariadne hochgeladene Schnurr-Sample ist die prompte Antwort. Aus dem Geistnebel über unseren Köpfen materialisiert sich meine Gefährtin. Ich sehe erfreut, dass sie als Avatar heute die Engelsgestalt gewählt hat. Mit langsam schwingenden Flügeln schwebt sie dicht über dem Boden vor mir. Ich ziehe sie an mich und küsse sie. Der sensorische Eindruck auf meinen Lippen ist distanziert, unbefriedigend. Die Entwicklung der Telesensorik ist bei weitem noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Für intimere Berührungen ist jetzt nicht die rechte Gelegenheit. Wir sparen uns das für später auf, wenn wir auf der Terrasse unseres goldenen Palastes an der Küste des Flüstermeeres dem Untergang einer der fünf Sonnen Narassons zusehen. "Hey Migoosh!" begrüßt Ariadne meinen Freund. "Hey Ari!" antwortet er. "Darf ich dir etwas anbieten?" Bevor das Mädchen antworten kann, schießt ein schwarzer, metallfunkelnder Roboter auf seinem fliegenden Blitz vom Himmel, rafft die auf der Tafel ausgebreiteten Speisen zusammen mit den wertvollen Schalen, Tellern und Gläsern in sein Netz und verschwindet so schnell er gekommen war. Der Schreck ist nur kurz. Fast gleichzeitig beginnen wir zu lächeln. "Unglaublich, dass es das noch gibt!" sagt Ariadne. "Ob er wirklich glaubt, damit durchzukommen?" Mighoosh vollzieht die Hilfsgeste des Druidenavatars. Vor ihm, in Sichthöhe, erscheint die rot pulsierende Kugel der Systemsteuerung. "Dieb", sagt er. Das System vollzieht ein Backspin des Locales bis zu dem Vorfall. Die Systemadministratoren zeichnen den Vorgang auf. Nach zehn Sekunden erscheinen die gestohlenen Gegenstände wieder auf der Tafel, genau so, wie sie vor dem Diebstahl angeordnet waren. Der schwarze Roboter ist identifiziert und festgenommen worden. Innerhalb der nächsten vier Stunden seiner Online-Zeit wird er dem Ermittlungsrichter vorgeführt, in Untersuchungshaft genommen und einem ordentlichen Gerichtsverfahren unterworfen werden. Die Gefängnisstrafe, die dem dreisten Überfall mit ziemlicher Sicherheit folgt, wird nicht unter zwölf Online-Stunden liegen. Auch der beste Verteidiger wird daran nichts ändern können, der Sachverhalt liegt zu klar. Migoosh verabschiedet sich. "Ich gehe noch ins TrueTravel." erklärt er. Ein Wink mit dem Runenstab lässt die Tafel verschwinden. Ich kann mir denken, was meinen Freund in die Cyberfiliale des Reisebüros treibt. Das Unternehmen bietet derzeit USA-Flüge zu 222 RD an. (RD = Real Dollar). Migoosh plant für seinen nächsten Urlaub eine ausgedehnte Amerikareise. Da kommt das Angebot wie gerufen. Er wird im Holoraum von TrueTravel den Avatar des Flugzeugs betreten, sich einen Platz seiner Wahl aussuchen (die bereits belegten Plätze sind mit Robotars belegt) und die Reise gleich inworld buchen. Ariadne und ich sehen dem hochgewachsenen Druiden nach, der sich in Richtung Paradise Avenue entfernt. Wir freuen uns auf unseren gemeinsamen Spazierflug über die Stadt und die herrliche Landschaft außerhalb ihrer Grenzen. Unsere Fluggondel ist mit allem ausgestattet, was das Herz begehrt: weiche Liegesessel, eine Innenausstattung von Philippe Starck und Ambient Grooves von CyB. Während wir uns fest umschlungen halten, blicken wir auf die im Sonnenlicht glitzernde Landschaft. Am Horizont erscheint als schmaler Streifen das Meer. Während wir uns nähern, erhebt sich das Flüstern seiner Wogen. In einer weiten Bucht erkennen wir unseren goldenen Palast. Langsam senkt sich die Gondel. Vier Diener nähern sich dem Landeplatz vor dem Marmorbrunnen. Die Robotars verbeugen sich, während wir aussteigen. Dann geleiten sie uns ins Innere.
"Ein Hauch von Unsterblichkeit wehte durch den Raum, als ich zum ersten Mal Dr. Michael Fossel gegenübersaß, denn Dr. Fossel beschäftigt sich mit nicht mehr und nicht weniger als der Beseitigung des Alterns." Doch der Wissenschaftler besuchte mich in meinem virtuellen Heim - und hier ist die ewige Jugend keine utopische Vision. Damit verliert die Einleitung irgendwie an Substanz. Also noch einmal von vorne: Ein Hauch von Hoffnung wehte durch den Raum, als ich zum ersten Mal Dr. Michael Fossel gegenübersaß. Hoffnung nicht für mich - aber für meinen User und seine Schicksalsgenossen, denn Dr. Fossel beschäftigt sich mit nicht mehr und nicht weniger als der Beseitigung des Alterns. Besser. Das trifft es. Dr. Fossel ist kein üblicher Nutzer virtueller Welten, daher tritt er in diesem Interview mit dem Namen seiner körperlichen Existenz auf. Nur für dieses Interview tauchte er kurzzeitig in die virtuelle Ebene ein und sandte einen Avatar aus, um mich für das Interview zu treffen. Dennoch ist Fossel kein Fremdkörper im virtuellen Universum. Seiner Überzeugung nach werden Bewohner des materiellen Universums schon in zwei Jahrzehnten eine Hauptfähigkeit ihrer virtuellen Stellvertreter annehmen: nicht mehr zu altern. Michael, was wird Ihre Familie dazu sagen, wenn Sie nach Marktreife der Telomerasetherapie diese an sich anwenden und alle überleben? Werden Sie die Therapie überhaupt selbst anwenden? Wenn die Telomerasetherapie bereits heute öffentlich verfügbar wäre, würde ich - mit 47 noch realtiv jung - ruhig abwarten und beobachten, wie sie funktioniert. In zehn Jahren sähe die Sache schon anders aus: Dann würde ich nicht mehr so lange warten. Meine Familie sieht das wie ich. Wir würden die Telomerasetherapie gemeinsam anwenden - und zwar weder als die ersten noch als die letzten. Wenn jemand - selbst jemand, den ich liebe - entscheidet, sich keiner Telomerasetherapie zu unterziehen, würde mir das zwar Kummer bereiten, aber ich würde dennoch sein Recht verteidigen, selbst über sein Leben zu entscheiden. Wie kann irgend jemand glauben, er wisse, was "richtig" ist? Selbstüberschätzung ist die größte Sünde des Menschen. Sind diese Überlegungen nicht obsolet? Bis Telomerase verfügbar ist, sind mein User und Sie sicher tot. Wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse eintreten, ist das nicht der Fall. Telomerasetherapie wird innerhalb der nächsten zwei jahrzehnte realisiert werden. So bald? Allerdings. Wie es sich mir darstellt, steckt hinter der rasch anwachsenden Faszination an der virtuellen Existenz eine unterbewusste Sehnsucht nach einem idealisierten Leben, der Traum vom verlorenen Paradies, frei von Verantwortung, Pflicht, Risiko und Gefahr. Und hinter all dem scheint es eine vage Reflektion von Unsterblichkeit zu geben - ähnlich der Unsterblichkeit digitaler Wesen, wenn man bereit ist, Lebenstheorien zahlreicher Quellen zu adaptieren - von Antii Revonsuo bis zurück zu Aristoteles. Virtuelle Realität ist eine der drei großen Revolutionen, die derzeit fortschreiten. Die anderen zwei sind die unbegrenzte Erweiterung der menschlichen Lebensspanne und genetische Manipulation. Sind virtuelle Gemeinschaften ein Bild des Kommenden, angesichts der Vision, dass die menschliche Lebensspanne sich nach und nach der Unsterblichkeit annähert? Sicher, wenn auch noch mit Einschränkungen. Die derzeitige Ausprägung des Internet verhält sich zur künftigen virtuellen Gemeinschaft wie eine Höhle zu Bill Gate's neuem Haus. Ich meinte das etwas anders. Die wachsende Akzeptanz virtuellen Lebens ist eine Art "Erinnerung an die Zukunft", ein tief verwurzeltes Verlangen nach Unendlichkeit der eigenen Existenz. Diese intuitive Sehnsucht ist unabhängig von den tatsächlichen Möglichkeiten zu ihrer Realisation - so wie der Traum vom Fliegen angesichts donnernder und stinkender Düsenflugzeuge. Ja. Das erinnert mich an Arthur C. Clarke's "Childhood's End". Michael, was halten Sie von folgender Theorie: Der Alterungsprozess vollzieht sich im Körper erheblich schneller als im Geist. Während der Körper seine volle Reife nach etwa 25 Jahren erreicht, benötigt der Geist erheblich mehr Zeit - vielleicht 100 Jahre - um auszureifen. Demgemäß sterben die meisten von uns als Kinder. Die Theorie scheint sich zu bestätigen, wenn man die Methoden der Konflikbewältigung unter sogenannten Erwachsenen betrachtet. Wir benötigen drei Dinge, um geistige oder psychologische Reife zu erringen: Zeit, Erfahrung und Motivation. Haben wir die Erfahrung, aber es fehlt uns an der Motivation zu lernen, werden wir nicht wachsen. Was wir brauchen, ist die Notwendigkeit, auf unsere Erfahrungen zu hören und von ihnen zu lernen. Doch wenn wir früh sterben, also mit etwa 75 Jahren, spielt all das keine Rolle. Wir brauchen Zeit, um von unserem eigenen Leben zu lernen, die Erfahrung, von denen wir lernen können, und einen Grund, warum wir lernen sollten. Viel Zeit zu haben, kann aber auch zu Sorglosigkeit führen. Hin und wieder überfällt mich die Befürchtung, wir könnten eine uns geschenkte Lebensspanne von - sagen wir - 500 Jahren durch eine überzivilisierte, verhätschelte Lebensweise missbrauchen. Das Leben wäre so leicht, dass wir naiv, gedankenlos und gleichgültig bleiben. Aber diese Dinge geschehen auch jetzt, sogar während unserer kurzen Lebensspanne. Ein verlängertes Leben erhöht unsere Chancen, Weisheit und Tiefe zu erlangen. Eine Lebensspanne über mehrere hundert Jahre ist unsere größte Chance, um letztendlich einen Hauch wahrer Zivilisation zu gewinnen. Fluch und Segen. Schlagen da zwei Herzen in Ihrer Brust? These, Antithese, Synthese. Ich habe - berechtigte? - Befürchtungen, ich bin ein Optimist, oder vielleicht ein Realist. Einige werden naiv bleiben - ungeachtet ihrer Lebensspanne - andere werden Weisheit erlangen - so wie einige es bereits heute innerhalb ihrer kurzen Lebensspanne tun. Weil wir gerade von Lebensspannen reden: Wie alt können wir werden? 100 Jahre? 500 Jahre? 1000 Jahre? Irgendwie weckt diese Frage in mir die Assoziation mit der oben offenen Richterskala ... Das werde ich oft gefragt. Würde ich antworten: "Ein Jahr länger", erntete ich gelangweiltes Gähnen. Sage ich "1000 Jahre", erzeuge ich Gelächter. Lachen ist gut für unsere Seelen. Wir können potentiell unbegrenzt lange leben, weit über 1000 Jahre hinaus. Lebe und du wirst sehen. Es gibt also kein wirkliches Hindernis für unbegrenzte Lebensspannen. Glauben Sie an die Unsterblichkeit des menschlichen Organismus? Unsterblichkeit gibt es nicht, aber ebenso muss es das Altern nicht geben. Wenn Sie unter Unsterblichkeit die Unfähigkeit zu sterben verstehen, gilt der erste Satzteil. Wenn Sie unter Unsterblichkeit eine unbegrenzte Lebensspanne verstehen, nur begrenzt von stochastischen Risiken, dann trifft der zweite Satzteil zu. Was wir erreichen können, ist die sogenannte "biologische Unsterblichkeit", nicht die absolute Unsterblichkeit. Man kann immer noch Selbstmord begehen, an einer Seuche, im Krieg, vor Hunger, durch ein Trauma oder an unzähligen anderen Todesarten sterben. Es gibt keine Notwendigkeit, an Altersschwäche zu sterben. Ist das Ihre wirkliche Ansicht, oder möchten Sie nur nicht das gewaltigste Tabu der menschlichen Existenz brechen? Ich glaube nicht, dass Unsterblichkeit das gewaltigste Tabu ist. Im Gegenteil: Sie ist ein beständiger Wunsch, der sich durch die gesamte menschliche Geschichte erstreckt, aber "mit zwei Herzen". Die Geschichte von der verbotenen Frucht gehört hierher, doch eben diese Frucht wird heute noch als heilige Suche hochgehalten. Das Epos des Gilgamesch, der Mythos von Tithonos, der biblische Lazarus, der ewige Jude, die vorsintflutlichen Patriarchen, Oscar Wilde's "Bildnis des Dorian Gray", Marco Polo's indische Yogi Asketen, der Brunnen von Ponce de Leon, Voltaire's alter Mann in El Dorado, Hugh Lofting's Otho Bludge, Robert Heinlein's Lazarus Long, Larry Niven's "Boosterspice" - sie alle sprechen zu diesen "zwei Herzen". Es ist kein Tabu. Es ist nur die Angst, enttäuscht zu werden, so wie Aurora und Tithonos, so wie Gilgamesch, und so wie Dorian Gray. In dieser Angelegenheit sind unsere sozialen Strukturen nicht festgefügt: Wir bestrafen Versagen, wir fürchten die Bestrafung - und doch träumen wir und vertrauen unseren Träumen. So, wie beispielsweise Sie. Das Tabu gilt nicht für Menschen, die wie Sie und ich fühlen und denken. Doch es gibt mächtige Tabuwächter - nehmen wir beispielsweise den Papst. Mit Ihrem Modell der Unsterblichkeit entziehen Sie ihm buchstäblich die Geschäftsgrundlage, besonders, wenn Sie beweisen, dass Unsterblichkeit wirklich kommen wird. Meiner Ansicht nach ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie seinen Bedenken ausgesetzt sein werden. Was werden Sie ihm antworten? Sie würden sich wundern. Meiner Meinung nach befindet sich der Papst in Übereinstimmung mit der Telomerasetherapie, um die Kranken zu heilen und das Leiden zu verbannen - welcher Papst könnte dem widersprechen? Oder aber er sieht seine Interessen orthogonal zur Telomerasetherapie - was um Himmels Willen hat Lebensspanne mit Sünde zu tun? Ich wage jede Wette: Er und die Vertreter aller anderen führenden Weltreligionen werden sich nicht gegen die Telomerasetherapie stellen. Kommen wir zurück auf Ihre Sicht der Unsterblichkeit. Vielleicht ist das ein Zweiklasseneffekt: Die Risiken und Gefahren, die einer unbegrenzten Lebensspanne entgegenstehen - vom Selbstmord über den Krieg bis zum Trauma - mag auf einen wesentlichen Teil der Gesellschaft zutreffen. Doch einige könnten vielleicht ein Gehirn-Backup - oder sogar ein Persönlichkeits-Backup - von sich angefertigt haben. Sie könnten nach einem Unfall vielleicht genetisch rekonstruiert werden. Vielleicht könnten sie sogar einen Meteoreinschlag oder die Implosion der Sonne überstehen - dann nämlich, wenn sie ihr Backup - oder ihre Backups - irgendwo anders im Universum stationiert haben. Vielleicht haben diese Personen den Rekonstrukteur angewiesen, sie nach einem Selbstmord auch gegen ihren eigenen Willen zu rekonstruieren - aus religiösen Gründen zum Beispiel. Würden Sie nicht auch zustimmen, dass auf diese Menschen der Begriff der absoluten Unsterblichkeit zutrifft, und nicht nur die biologische? Unsterblichkeit lässt mich an die griechischen Tragöden und ihre Meinung zur Definition eines glücklichen Lebens denken: "Nenne niemanden glücklich, bevor er seinen letzten Atemzug getan hat." In anderen Worten: Absolute Unsterblichkeit ist wie das Zählen bis Unendlich: Man kommt nie an. Wollen wir Unsterblichkeit in etwas griffigeren Begriffen umschreiben, tun wir das durch negative Voraussetzungen: 1. Du alterst nicht. 2. Du stirbst nicht an derzeit bekannten Infektionen. 3. Man kann dich nach einigen, genau definierten Formen von Trauma genetisch rekonstruieren, danach deine Persönlichkeit in dein Gehirn zurückschreiben, und so weiter. Das wäre eine etwas konkretere Form Ihres Vorschlags. Kurz: "Absolute" Unsterblichkeit per definitionem ist nicht erreichbar, aber wir können eingeschränkte Formen verlängerter, gesunder Lebensspannen unter bestimmten Bedingungen als "unsterblich" definieren: Man kann bei einem nuklearen Schlag sterben, nicht aber an Tollwut oder Altersschwäche. Nächste Stufe: Man kann sterben, wenn der Kern der Galaxie explodiert, nicht aber an einem nuklearen Schlag (weil wir ja Kopien von uns in anderen galaktischen Regionen aufbewahrt haben). Nächste Stufe: Man kann sterben, weil das Universum endet, nicht aber, wenn der Kern der Galaxie explodiert - und immer so weiter. Die darauf folgende Stufe würde mich interessieren - aber lassen wir das. Kommen wir lieber wieder zurück auf die Erde. Lange Lebensspannen werden zweifellos drastische Auswirkungen haben. Zum Beispiel: Das System der Sozialversicherungen, wie wir es heute kennen, dürfte sich selbst erledigen. Glauben Sie, das alles kann gemeistert werden? Die sozialen Auswirkungen werden tief, durchdringend und ohne Präzendenzfall sein. Die Sozialversicherung lässt sich auf dramtische Weise überarbeiten, um mit Steuereinnahmen, Lebensspannen und einem - wenn auch begrenzten - Ruhestand in Einklang gebracht zu werden - jedoch NUR, wenn wir bestimmte Variablen genau vorraussagen können. In Japan, Amerika, Deutschland und den meisten anderen entwickelten Ländern ist das derzeit größte Hindernis für ein gesundes Sozialversicherungssystem politisch fundiert: Die Zahlen würden schon stimmen, aber die Wähler mögen sie nicht. Nach der Ankunft der Telomerasetherapie wird alles anders: Lebensspannen können nicht mehr vorausgesagt werden, ebenso der Anteil der gesunden Lebensjahre, die Länge des Ruhestandsabschnitts, Behinderungen, und so weiter. Diese und andere Variablen sind wesentlich für fiskalische und demographische Projektionen, wie wir sie für die Konstruktion eines lebensfähigen Sozialversicherungssystems brauchen. Auf lange Sicht werden wir ein solches Sytem auf die Beine bringen, aber in der Übergangszeit droht das Chaos. Sprechen wir einmal über das Thema Überbevölkerung. Ausgehend von der Annahme, das die sexuelle Reife so früh einesetzt wie heute und die Familien entsprechend mehr Kinder haben: Wird es nicht viel mehr Menschen geben, die unseren Planeten gleichzeitig bewohnen? Die Bevölkerung wird wachsen. Es gibt eine Anzahl von Variablen - auch hier größtenteils noch unbekannt - die uns sagen könnten, wann, und in welchen Ländern. Darin enthalten sind Indikatoren für die Wechseljahre, den Trendwechsel zu weniger Kindern pro Frau, Lebensspanne, Anstieg der Lebensdauer pro Altersgruppe und etwa ein Duzend weitere Faktoren. Merkwürdigerweise lauten die sich daraus ergebenden Antworten wie die heutigen, obwohl sich die Variablen ändern - wenn sich nicht andere führende historische Trends umkehren. Im Endeffekt hängen die Antworten auf die offenen Fragen überwiegend von einer einzigen Variablen ab: der Lebensverlängerung. Die einfache Regel - ich nenne sie "Fossel's Faustregel" - ist, grob gesehen, immer noch korrekt: doppelte Lebensspanne gleich doppelter Weltbevölkerung. Diese Richtlinie berücksichtigt allerdings nicht Einflüsse aus neu hinzugekommenen Veränderungen der Geburtenrate, die Auswirkungen von Einwanderungsströmen und die Langzeitauswirkungen demographischer Übergänge, die die Bevölkerungszahlen immer wieder abzusenken scheinen. Die Frage ist dabei nur: wann und in welchem Maß? Wie auch immer - die Regel bleibt bestehen: Die Bevölkerung wächst proportional zur Lebensspanne. Möglicherweise ist das Problem gar nicht so virulent. Wenigstens in der nächsten Generation - sagen wir 500 Jahre? - wird langes Leben wohl das Reservat der Priviligierten sein. Sehen Sie das Entstehen einer neune sozialen Klasse, und damit einhergehend neuen Klassenneid, oder sogar Klassenkampf? Oder wird sich der neue Kinflikt eher als Diskriminierung oder Angst vor dem Unbekannten darstellen, so wie bei Lilliputanern oder siamesischen Zwillingen? Da bin ich völlig anderer Meinung. Telomerasetherapie und die daraus folgende gesunde Langlebigkeit wird nicht das exklusive Recht der Priviligierten sein. Die Gründe für diese Behauptung - wie auch für alle bisherigen Antworten - beschreibe ich detailliert in meinem nächsten Buch. Grundsätzlich gesagt: Innerhalb einzelner Länder wird es keine Ungleichheiten beim Zugang zur Telomerasetherapie geben. Dagegen gibt es Unterschiede zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. Letzteres wird sicherlich erhöhte soziale Spannungen erzeugen und - auf indirekte Weise - zu verstärktem Terrorismus und politischem Streit führen. Innerhalb der einzelnen Länder jedoch werden drei Faktoren solche Konfliktlagen verhindern: schnell amortisierte Kosten bei hoher Gewichtung von Forschung und Entwicklung, Verfügbarkeit auf dem schwarzen Markt und gesetzliche Beschränkungen auf Monopolprofite. Das Thema ist zu komplex, um es in diesem Intneview angemessen behandeln zu können, aber das Argument steht auf gesunden Füßen. Also werden wir in dieser Sache auf Ihr Buch warten müssen. Wann kommt es heraus? Das steht noch nicht fest. Derzeit stehe ich in Verhandlungen mit mehrern Verlagen. Der voraussichtliche Termin ist Anfang 2000. Erzählen Sie mehr darüber. Der Arbeitstitel lautet "Unsterblichkeit: Die Ankunft der Zivilisation". Das Buch befasst sich mit der Geschichte von Unsterblichkeitsmythen, beschreibt den Stand der aktuellen Forschung und Telomerasetherapie und geht dann auf die Auswirkungen ein, einschließlich Bevölkerungsfragen, ökonomischer und sozialer Veränderungen, ethischer und religiöser Aspekte und der allgemeinen Effekte auf Zivilisation und Menscheit. Vielen Dank für das Gespräch, Michael. Es war mir ein Vergnügen, Nexo. Darf ich jetzt wieder materialisieren?
Fun-Producer und Viva-Moderator Stephan Raab verdanken wir einen bedeutenden Schritt in Richtung Annäherung zwischen virtueller und materieller Welt. Bisher schien die letzte Konsequenz undenkbar, unausführbar: Die Materialisation eines Avatars war bis vor ganz kurzer Zeit allenfalls Stoff für Science-Fiction-Stoffe zwischen Tron und Last Action Hero. Raab hat den Kontakt geschlossen, und das durch eine geniale Assoziation: Wenn ein Avatar keine eigene Materie hat, mit der er sich auf der körperlichen Welt etablieren kann, muss eben ein geeigneter Körper gefunden werden, von dem er Besitz ergreifen kann. Angesichts dieser Erkenntnis erhält man einen anschaulichen Eindruck davon, welche Filme Raab in der letzten Zeit gesehen haben muss. Ein geeigneter Wirt war schnell gefunden. In Guildo Horn fand der Musikterrorist eine Wesenheit vor, die sich selbst bereits für die problemlose Vereinnahmung vorkonfiguriert hatte: Eine satinglänzende Schmalzheinikarikatur mit schütterem Langhaar und Wabbelbauch, gekommen, um mit selbstgeklonten Schlagerphantomen das etablierte Carpendale/Cordalis-Imperium ins Wanken zu bringen. Doch auch der Meister war - wie die anderen Vertreter des Schlagerparodistentums - den Weg aller Schnulzen gegangen: Emporgehoben auf die Woge der unreflektierten Begeisterung einer orientierungslosen Fangemeinde, korrumpierte sich der Rächer in Lichtgeschwindigkeit vom Herzschmerz-Desperado zum angepassten Diplomschnulzi. Gegen sein Publikum hatte Guildo von Anfang an keine Chance gehabt: Die sich in hysterischem Überlegenheitstaumel selbst feiernde Fangemeinde unterlag einer monumentalen Selbsttäuschung: Im Glauben, sich als elitäre Verspottungselite über die Masse der Schlagerfreunde zu erheben, ließ sie sich in Wirklichkeit vom verlogen anbiedernden Kopfstreichelpotential der großdeutschen Schlagerschleimparty hinterrücks vergewaltigen und tanzt nun auf Parties mit Orginalplatten aus den Sechzig-Siebzig-Achtzigern. Ein trojanischeres Pferd konnte sich Alf Raab (Stephan Igel?) nicht wünschen. Nicht nur die feindlichen Soldaten sind in seinem Bauch wohl verborgenen, auch das Pferd selbst ist als solches nicht zu erkennen. Ja, selbst die feindlichen Heerscharen, die das listige Tier vor dem Stadttor zurückließen, erscheinen mit den Fahnen der eigene Leute. So also injizierte Raab dem ahnungslosen Guildo seinen heimtückischen Avatar Alf Igel und rollte das Pferdchen in Gestalt des Trällermachwerks Guildo hat Euch lieb" vor die stark bewehrte Schlagerfestung. Da die Burgbewohner den virtuellen Braten natürlich sofort riechen würden, mobilisierte Raab seine Streitkräfte: die zu vollgültigen Schlagerzombies mutierten Anhänger ihres Meisters. Zusammen mit der nicht unwesentlichen Menge herkömmlicher Schlagerliebhaber, die Guildo Horn von Anfang an für einen der ihren hielten, gelang der Coup. Das trojanische Pferd gelangte ins Innerste der Schlagerburg. Von dort aus wird es direkt ins Heiligste der europäischen Schnulzenkloake rollen und dort eines von zwei Ergebnissen erzielen: Entweder den deutschen Schlager dem aussetzen, was ihm schon seit Jahrzehnten gebührt: internationalem Spott und endgültiger Verachtung. Oder die Akzeptanz durch die Douce-Point-Mafia, ein Platz auf den vorderen Rängen und damit die Infektion des gesamten Krankheitsherds. Gut gemacht, Stephan! Und Avatar Igel? Ihm gebührt ewiger Ruhm als dem ersten virtuellen Wesen, das uns seine Macht hat spüren lassen. Wir sind nicht mehr allein. Wir werden uns die Führungsrolle als führende Lebensform auf diesem Planeten mit unseren virtuellen Stellvertretern teilen müssen.
Den Marker im Anschlag, schleiche ich auf den dicken, knorrigen Baum zu. Wenn meine Beobachtungen richtig waren, steht ein Gegner dahinter, mit angehaltenem Atem, seinen Marker hochgereckt, um ihn nicht hinter dem Baum hervorragen zu lassen. Ich bin noch drei Schritte weg, zwei ... Pech. Unter dem Laub lag ein trockener Ast. Das Knacken gab dem Gegner zwei dringend benötigte Informationen: Abstand und Richtung. Mit einem Schrei springt er vor, reißt den Marker herunter. Bevor ich reagieren kann, verpasst er mir eine Kugel. Meine gewendete Tarnjacke trägt einen gelben Fleck mehr. Ich fluche. Tarnmuster nicht erlaubt auf diesem Feld - no camo. Das habe ich nun davon. Nein, es ist nicht Krieg. Auch nicht Manöver. Wir spielen. Ein Mannschaftsspiel. Ein Spiel, das aus dem Computer kommt, auch, wenn viele der Spieler das nicht wahrhaben wollen. Alles begann mit dreidimensionalen Actionspielen wie Stonekeep oder Hexen. Es begann für jeden allein. Allein gegen den PC, die Hand am Joystick, auf dem Weg durch phantastische Reiche voller Monster und Magier. Rasch gesellte sich ein Kiebitz zu den Spielern: Einsamkeit. Action weckt die Lust an der Kommunikation, am gemeinsamen Erleben. Gesucht: die Problemlösung. Was ist das Gegenteil von Einsamkeit? Suche im Erfahrungsschatz. Gegensätze. Hass? Liebe. Neid? Wohlwollen. Einsamkeit? Internet. Die Netzspiele entstanden. In den Schluchten und Schloßhöfen, in denen der isolierte Spieler bisher allein gegen Blitze schleudernde Todesreiter anballerte, jagten sich nun weltweit zusammengeschaltete Gladiatoren, einzeln oder in Gruppen, mit Schwerten, Laserkanonen oder magischen Blitzringen. Und in den Hirnen einiger verdichtete sich eine radikale Idee: Warum nicht einfach den Computer weglassen? Gewiss, das hat Nachteile. Man muss das Haus verlassen. Sich an einem bestimmten Ort treffen. Sich den Witterungsverhältnissen aussetzen. Doch die Vorteile sind auch nicht von der Hand zu weisen: Zehn Zentimeter vor einer Mauer stehend, sieht diese immer noch aus wie eine Mauer und nicht wie eine karierte Tischdecke. Welche pixelorienierte 3D-Engine kann das bieten? Ach ja, und dann noch ein Vorteil: Die, mit denen man es zu tun hat, sind keine Avatare, sondern Menschen. Richtige, echte Menschen. Oder ist das möglicherwiese gar kein Vorteil? So entstand - neben anderen Spielen - Paintball. Ein Spiel, bei dem es meist darum geht, eine Flagge zu erobern. Nicht virtuell, auf dem Monitor, sondern echt, körperlich, in freier Landschaft. Das heißt - so frei nun auch wieder nicht. Gespielt werden darf nur auf umfriedetem Gebiet, nach vorheriger polizeilicher Genehmigung. Heute spielen wir auf dem Feld bei Ohrel, GPS-Koordinaten N 53°24´31.2" E 09°18´16.1, beziehungsweise UTM 32 U 0520239 / 5917777 (Karteneinteilung der Bundeswehr). Das Spiel: Center Flag, eine der vier Hauptvarianten. Beide Mannschaften kämpfen um eine Flagge, die in der Mitte des Felds aufgehängt ist, und tragen sie in die gegnerische Basis. Wer das zuerst schafft, ist Sieger - logisch. Für mich ist die Sache allerdings erledigt. Ich bin raus. Getroffen. Dead man. Ich beginne den dead man walk, weg von dem ganzen Schlamassel. Eine Hand auf den Kopf gelegt, stolpere ich in Richtung Auto. Sollte eigentlich zur dead man zone gehen, aber das nervt jetzt. Mann, sieht das blöd aus. Trotzdem besser, als noch weitere Farbkugeln aufgebrannt zu bekommen. Am Wagen reiße ich mir die Schutzmaske vom Gesicht. Mist. Hatte das Gefühl, unbesiegbar zu sein diesmal. Unbesiegbar, von wegen. Die Gedanken schweifen ab. Ich habe noch gegen einen anderen Gegner gespielt heute. Einen mächtigen Gegner. Auch der, der mich abgeknallt hat, spielt gegen den selben Gegener und alle anderen auch, auf allen Feldern dieser Republik. Wir alle spielen gegen die Bundesregierung. Die nämlich will uns verbieten. Ersatzlos. Schluss mit lustig. Ein Paragraph extra für uns. Das heißt, ein Abschnitt in einem Paragraphen. § 118a, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten: Verbot der Veranstaltung von Spielen mit der Simulation von Tötungshandlungen (z.B. Laserdrome, Gotcha etc.). Und wir, die Paintballer, wir sind in den selben Topf gefallen. Na gut, ein bisschen Krieg ist schon dabei. Und wenn mich die Farbkugel trifft, aus einem Marker abgeschossen, der ein bisschen aussieht wie ein israelisches Schnellfeuergewehr, dann steckt auch eine Portion Gewalt dahinter. Geschenkt. Aber eines solltet ihr bedenken, ihr Allesregler: Wer uns verbieten will, der muss auch alle Boxkämpfe verbieten. Bei uns geht es um den ritualisierten Abschuss. Bei den Boxern geht es um wirkliche Prügel, um Schläge, die vernichten sollen - und es geht um Blut. Nicht Wachs, wie bei uns. Beim nächsten Paintball World Cup in Orlando werden rund 150 Teams mit über 1000 Spielern antreten. Davor gab es das Camps-Masters Turnier in Tolouse, die Borderland-Trophy in Belgien, Turniere in Holland, Mallorca, Italien, Polen. Irgendwie haben wir schon ein Talent dazu, uns alles besonders kompliziert zu machen, wir Deutschen. Unsere Allesregler ringen Tag um Tag, Stunde um Stunde verzweifelt die Hände, in namenloser Furcht davor, der deutsche Normalzombie könnte durch finsteres Tun aus seinem unschuldigen Halbkoma gerissen und mit seiner evolutionären Wahrheit konfrontiert werden. Selbstdenker als herrschendes Volkselement können sie sich nicht vorstellen, die Allesregler. Wie so oft, hat die Privatwirtschaft auch hier einen deutlichen Erkenntnisvorsprung. Die Ugly Ducklings aus Dänemark, das derzeit wohl beste und erfolgreichste Paintball-Team Europas, wird unter anderem von Adidas gesponsort. Inzwischen habe ich meine Jacke ausgezogen und in den Kofferraum gefeuert. Der gelbe Wachsfleck grinst mich an. Bin richtig mies draufgekommen mittlerweile. Für die Allesregler bin ich ein potentieller Killer. Für den Spieler, der mich abgeknallt hat, bin ich totes Fleisch. Vielleicht sollte ich lieber wieder auf die andere Ebene wechseln, die mit dem Computer ... Abwarten. In einer Woche ist wieder Sonntag.
Vielleicht lag es ja an der ungünstigen Tageszeit, zu der ich die Stadt zum ersten Mal kennenlernte. Die Siesta an einem heißen Sommertag weckt seltsame Geister in einer ruhenden Stadt des Südens. Die Hitze flimmert, die Luft scheint sich zu verdicken. Die Zeit hält den Atem an. Nur die kleinen und großen Gruppen verbissen durchhaltender Touristen stemmen sich gegen dickflüssige Ströme bleierner Ruhe. Dieses Mal war ich einer von ihnen - aber die Stadt erzählte mir eine ganz andere Geschichte. Sollte die Stadt wirklich anders sein als die übrigen venezianischen Metropolen, wäre es kein Wunder. Aus einer Pattsituation der maßgebenden Vicenzianischen Familien des 16. Jahrhunderts, gepaart mit dem unbändigen Willen zu Differenzierung und Abgrenzung, entstand eine seltsame Mischung aus revolutionärem Geist und gegenreformatistischer Nabelschau. In Vincenza entstand - um zum Kernpunkt zu kommen - ein virtuelles Abbild erträumter Idealwelten. Auf diesem Nährboden gedieh die Accademia Olimpica. Die exklusive Verbindung elitärer Kreise wäre wohl niemals aus dem Dunstkreis der anderen Akademien Vicenzas hervorgetreten, hätte sie nicht zum rechten Zeitpunkt eine Art basisdemokratischer Öffnung betrieben, die auch nichtadeligen Personen den Zugang ermöglichte. Das verschaffte ihr eine jahrzehntelang andauernde Infusion an Wissen, Können, Genialität und Kreativität, die es letztendlich möglich machte, die virtuellen Träume einer individualistischen Kaste steingewordene Wirklichkeit werden zu lassen. Man kann es getrost einen Glücksfall der Geschichte nennen, dass einer der 21 Gründer der Accademia Andrea Palladio war, jener geniale Baumeister, der das architektonische Gesicht Europas maßgeblich mitgeprägt hat. Als er von der Akademie den Auftrag erhielt, eine Bühnenanlage zur Abhaltung der Feierlichkeiten für Herkules, den Gründer der antiken olympischen Spiele zu errichten, trat das Virtuelle im Gedankengut der Akademie erstmals deutlich zutage. Ein Theater für eine Feier? Und danach? In Palladio fand die Accademia den idealen Vollstrecker ihrer Vorstellungen. Würde es nicht so überspitzt klingen, müsste man es so ausdrücken: Palladio ist der Erfinder des Cyberspace. Natürlich konnte er ihn nicht digitalisieren und auf einen elektronischen Datenträger übertragen. Also baute er einen aus Holz und Stein. Auf der Basis seiner archäologischen Studien entwickelte er ein Konzept des wiedergeborenen klassischen Theaters der Antike, dessen Hauptaufgabe es ist, sich selbst zu spielen. Theater um des Theaters willen - das ist Virtualität in Reinkultur. Vielleicht ist das Teatro Olimpico das Ergebnis einer Reihe günstiger Zufälle. Einer davon war - so makaber es klingen mag - der Tod des Baumeisters im Jahr 1580, noch während die Begrenzungsmauern der Anlage errichtet wurden. Zwar hatte er die Vision des virtuellen Raums zum Leben erweckt, aber es bedurfte eines Meisters wie Vincenzo Scamozzi, der, aus dem Schatten des übermächtigen Vorbilds getreten, das Teatro Olimpico von der hinderlichen Vorgabe des klassischen Vorbilds befreite und modernste Konzeptionen einfließen ließ. Als Ergebnis wurde auf erweitertem Gelände die Tiefe des Bühnenraums vergrößert und so die perspektivische Illusion perfektioniert. Walkthrough durch ein Monument Der Vorraum des Cyberspace heißt im Teatro Olimpico Saal des Antiodemus, gefolgt vom Saal des Odeums. Ein Tribut an den Massentourismus ist die Verlegung des Eingangs zum Theatersaal: Musste man sich ursprünglich über zwei Treppen zu den oberen Logen hochkämpfen, um von dort aus die Plätze einzunehmen, betritt man den Raum heute über einen schmalen Pfad, der vor der ersten Reihe am Bühnengraben entlangläuft. Dem virtuellen Gehalt der Anlage kommt das allerdings zugute: Von der ersten Sekunde an ist der Blick gefangen von der wandernden Perspektive einer scheinbar 50 Meter in die tiefe gehenden Stadtansicht. Fasziniert vom optischen Effekt und dem dramatischen Pomp des Zuschauerraums lässt man sich - wie von unsichtbaren Ordnern angewiesen - irgendwo auf den im Halbkreis angeordneten, ansteigenden Holzbänken nieder. Um das Teatro Olimpico zu begreifen, muss man hier sitzen. Und schauen. Erst nach geraumer Zeit fällt dem Besucher auf, was ihn von Anfang an irritiert hat: Tageslicht. Das Theater wird durch Oberlichte mit reichlich Sonnenlicht versorgt, was einen weiterer Beleg für die virtuelle Struktur darstellt. Die Naturbeleuchtung soll neben Tagesvorstellungen problemlose Besichtigungen ermöglichen. Ins selbe Horn stöst die Gestaltung der als künstlicher Himmel angelegten Decke - "gemalte Luft", wie es zu Zeiten des Theaterbaus hieß. Das Zentrum des antiken Cyberspace bildet das Proszenium, das aus einer langgestreckten, schmalen, rechteckigen Bühnenfläche besteht. Von hier ausgehend saugen drei Öffnungen, die "hospitalia" den Zuschauer in die scheinbare Tiefe einer illusionären Stadt, komplett mit Straßen und festlichen Häusern. Die Illusion der Tiefe in den drei auf die Vorbühne zulaufenden Straßen erreicht Scamozzi durch steiles Ansteigen des Bühnenbodens. Mit nur zwölf Metern realer Tiefe erreicht der Bühnenraum so die verblüffend ausladende Räumlichkeit einer "idealen" Stadt des Rinascimento. Und das ganz ohne Auflösungsverluste pixelbasierter Grafiken. Die prophetische Virtualität der Anlage wird neben dem künsterlischen und kulturellen Gehalt vor allem durch das soziale Phänomen belegt, die das Teatro Olimpico in seiner Zeit darstellte. Innen und außen sind vertauscht. Eine "offizielle" Außenfront gibt es nicht, nur eine schmucklose, schlichte Mauer. Dafür simuliert das Theater in seinem Inneren die Außenwelt. Diese - die wirkliche Außenwelt - ist niemals ganz ausgeschlossen. Sie ist jederzeit durch das Eindringen von Licht und Geräuschen der nahen Hauptverkehrsstraße präsent. Es wird behauptet, das Teatro Olimpico inszeniere sich auch ohne Aufführungen. Das ist der Fall. Wie in jedem funktionierenden Cyberspace gibt es auch hier Avatare. Die Statuen an der Bühnenfront, zeitlich versetzte Vertreter der Akademiemitglieder aus der Gründungszeit, führen im wechselnden Licht der Tageszeiten ein Schauspiel auf, dem sich kein Zuschauer entziehen kann. Man wird gefangen vom Drama der verzweifelten Zurschaustellung einer Gesellschaft, die das kommende Ende einer Epoche verspürt. Die stummen Schreie der Statuen an der Bühnenfront künden von der Angst der Protagonisten, ihr eigenes Ende zu finden und - in Stein mumifiziert - im Strudel der Ewigkeit zu versinken. Viele Menschen, die das Teatro Olimpico kennen und lieben, vertreten die Ansicht, es sei nebensächlich, hier Aufführungen abzuhalten. Der Spielplan, der sich nur über einige Wochen im Jahr erstreckt, gibt dieser Ansicht recht. Das Teatro Olimpico ist tragische Architektur, sich selbst genug, eigenständig. Die einzige Zukunft des Teatro Olimpico liegt in seiner Vergangenheit, sagen die Kulturhistoriker. Das mag so sein, oder auch nicht - das Wesentliche und Einzigartige am Phänomen des Theaters liegt in einem Effekt begründet, den sich nur wenige der staunenden Besucher wirklich vergegenwärtigen: Jeder Zuschauer, jeder einzelne, ist Teil der Inszenierung. Das Theater - und wieder muss ein neuzeitlicher Begriff bemüht werden - interagiert mit seinen Besuchern. Um das zu erkennen, müsste man seinen Platz auf der hölzernen Bank verlassen und sich in die Tiefen des Bühnenbilds begeben, um von dort in die Runde zu blicken. Doch das ist - leider - verboten. Hier zeigen sich die Grenzen des körperlichen Cyberspace. Sollen alle Grenzen fallen, geht es eben doch nicht ohne Digitalisierung.
Für die Leser der genannten Autoren stellt sich die entbrannte Diskussion über Fluch und Segen von DNS-Manipulationen irgendwie angestaubt dar. Schon in den 50er Jahren tauchte sie in den Shortstories der SF-Anthologien auf: Klone, hergestellt aus dem Erbgut wertvoller, weniger wertvoller, oder unheilvoller menschlicher Originale. Wie üblich profilieren sich im Rahmen des obligatorischen öffentlichen Aufschreis die Skeptiker und die Kritiker. Es ist eine dankbare Aufgabe, skeptisch und kritisch zu sein. Skeptiker und Kritiker sind die Popstars der Gesellschaftswissenschaften, denn sie verinnerlichen die Geisteshaltung all derer, die auch nicht wissen, worum es eigentlich geht. Wer auf skeptisch und kritisch macht, tätschelt den Kopf jedes Dümmlings und Kleingeists, der seinen Mangel an Denkfähigkeit durch die Absonderungen einer scheinbar intellektuellen Instanz bestätigt sieht. Wer auf skeptisch und kritisch macht, findet immer sein dankbares Publikum. Ein Publikum, das johlend seinen Gladiator in die Arena der eigenen Engstirnigkeit schickt. Die Beispiele sind Legion: "Die Erde ist eine Scheibe, und wer etwas anderes behauptet, ist ein Gotteslästerer!" "Wer behauptet, dass diese Frau keine Hexe ist, hängt selbst der Hexerei an!" "Es steht unzweifelhaft fest, dass die Eisenbahn die gefährlichste Erfindung unserer Zeit ist, denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass der Mensch Geschwindigkeiten über 30 Kilometer pro Stunde nicht überleben kann." "Ganz eindeutig wird der Computer für den Verlust von Millionen von Arbeitsplätzen verantwortlich sein und das Ende unserer sozialen Marktwirtschaft bedeuten." Moment. Also nie mehr zweifeln, nie mehr kritisieren? Doch, natürlich. Eine wache Einstellung gegenüber der Welt und den Geschehnissen um uns herum ist die Voraussetzung für eine funktionierende, sich weiter entwickelnde Gesellschaft. Es kommt nur darauf an, bei Kritik und Skepsis eine wichtige Person nicht auszusparen: sich selbst. Meinungsbildung gehört zu den schwierigsten Angelegenheiten des Geistes, und sie besteht nicht aus zwanghafter Verneinung, dem Lieblingssport so vieler Bürgerinitiativen. ("In Ordnung, das Lokal hätten wir verjagt, und wogegen sind wir jetzt?") Es gibt so viele Fallen auf dem Weg zur reifen Urteilsfähigkeit: "Ist das wirklich meine Meinung, oder nur die Projektion des öffentlichen Konsenses?" "Ist das wirklich meine Meinung, oder die Brut meiner Vorurteile?" "Ist das wirklich meine Meinung, oder der Versuch, nicht aufzufallen?" "Ist das wirklich meine Meinung, So weit, so zweifelhaft. Aber was hat das Ganze mit der Klon-Diskussion des aufkommenden Gen-Zeitalters zu tun? (Ihr werdet es nicht aufhalten können, Diplomverneiner!) Eigentlich nicht viel. Oder doch: Es gibt, wie gesagt, ein neues Mammut-Tabu: das Klonen eines Menschen. Es ist - da sind sich die Kritik- und Skepsis-Heimwerker einig - verwerflich, unethisch, gotteslästerlich. Was die Schöpfung täglich millionenfach tut, nämlich die Schaffung neuer Erbsubstanz aus alter Erbsubstanz, soll der Mensch nicht nachmachen. Wo kämen wir da hin. Das haben wir noch nie gemacht. Da könnte ja jeder kommen. Und warum dürfen wir es nicht? Weil beim gefundenen Verfahren die genaue Kopie des Vorbilds entstehen würde, und futsch ist die heiß geliebte Einzigartigkeit. Erstens ist das Quatsch. Und zweitens egal. Einen Menschen auf seine DNS zurück zu führen, bedeutet, seinen Geist zu negieren. Der Mensch ist ein Konstrukt aus Genen, Erfahrung, Instinkten, äußeren Einflüssen und Seele. Die Auffassung, das Kopieren von DNS vervielfältige den Menschen, stammt aus grauer, mechanistischer Vorzeit. Von der Sekunde der Geburt an laufen die Lebenslinien der Menschen - auch Gen-identischer Exemplare - auseinander, der Chaosmathematik sei Dank. Die Milliarden und Abermilliarden zufälliger Impulse, die auf uns Zeit unseres Lebens einstürmen, lassen die Entstehung zweier völlig gleicher Menschen so wahrscheinlich werden wie das Auffinden einer anderen Welt, auf der zweibeinige, intelligente Wesen sich in großen Arenen versammeln, um 22 anderen Wesen bei der Jagd nach einer runden, mit Luft gefüllten Tierhaut zuzusehen. Und selbst, wenn ein voll entwickelter Erwachsener geklont wird: woher die Annahme, der immaterielle Geist würde mitkopiert? Nehmen wir doch einmal das bei den Klongegnern so beliebte Beispiel Adolf Hitler. Gehen wir davon aus, es hätte zu seinen Lebzeiten eine funktionierende Gentechnologie gegeben. Nehmen wir weiterhin an, ein gelungenes Experiment hätte zur Entstehung eines zweiten Adolf Hitler geführt. Nein, sagen wir, zur Abrundung des Projekts hätte man auch noch ein Backupmodell erzeugt. Also drei Adolf Hitler. Da stehen sie nun, der Presse zu Liebe gleich angezogen. Der Ursprüngliche ist an einem winzigen, nahe des Kragens in die Uniform eingestickten weißen Kreuzchens zu erkennen. Nur so zur Sicherheit. Und nun: Werden sie alle drei auf die nächstgelegene Rednertribüne stürmen, jeder die anderen beiden wegdrängelnd, und schließlich im Chor verkünden, dass ab 5:45 Uhr zurückgeschossen wird? Werden sie gemeinsam um einen runden Tisch sitzen und den Holokaust ausschwitzen? Werden sie zu dritt im Panzerspähwagen die polnische Grenze überschreiten? Horrorvisionen dieser Art gehen von einer Voraussetzung aus, für die es keine begründete Grundlage gibt. Nämlich die, dass beim Klonen eines Menschen dessen Anlagen mit übertragen werden. Für unser Beispiel heißt das: Die beiden Hitlerkopien müssten von der Sekunde ihrer Bewusstseinsfindung an von den gleichen Minderwertigkeitskomplexen gepeinigt werden, für deren Kultivierung das Original Jahrzehnte einer durchschnittlichen Versagerexistenz benötigt hat. Mehr noch: Die Komplexe müssten derart pathologische Ausmaße annehmen, dass ihr stolzer Besitzer sie nur noch durch Völkermord und Weltkrieg kompensieren kann. Woher die verwegene Annahme, Hitler-Klone kämen ebenfalls mit einer derart exotischen Veranlagung auf die Welt? Vielleicht gelangt Klon eins beim Betrachten seines Spiegelbilds zu ganz anderen Ergebnissen? Findet sich attraktiv? Ein toller Hecht? Wird Schauspieler? Vielleicht irritieren Klon zwei die dunklen Rauchschwaden aus den Kaminen, die er nach seinem Erwachen durch das Fenster sieht? Vielleicht empfindet er eine unbestimmte Schuld beim Anblick der grauen Mauern, mit denen der Mensch schon damals seine Umgebung zubetoniert hat? Adolf Hitler als Vorläufer der deutschen Sektion von Greenpeace? Schon gut, schon gut. Vielleicht ist das Klonen von Menschen wirklich gefährlich. Ich werde weiterhin darüber nachdenken. Nachdenken. Nicht nachbrabbeln. In der Zwischenzeit - ganz ehrlich - fände ich es nicht so Grauen erregend, wenn es einen Klon von mir gäbe. Endlich jemand, mit dem ich mich vernünftig unterhalten könnte.
Also, das ist geklärt. Ich bin ein Mensch. Das hat Nachteile. Wäre ich nur ein Avatar, könnte ich mich in seelischen Tiefflugphasen ausloggen und hätte Ruhe. Das Ausloggen als Mensch ist allerdings ein problematischer Vorgang, da beim heutigen Stand der Wissenschaft ein Reboot nicht möglich ist. Zumindest nicht als Mensch. Also bleibe ich eingeloggt, solange der Große Sysop es für richtig hält. Obwohl ich mich während der aktuellen Sitzung beliebig oft in den Sleep- und Standby-Modus versetzen kann, ist eine komplette Reorganisation meiner emotionalen Sektoren auf diese Weise nicht möglich. Manchmal, ich schäme mich, es zuzugeben, erfasst mich eine niedere, archaische, instinktive Lust auf - ja - auf Leben. Körperliches Leben. Materiebasierendes Leben. Auf Kontakt. Auf Ausgehen. Auf Party. Auf hübsche Mädchen. Auf Interaktion im gesellschaftlichen Raum. Ein alter Freund sagt, man könne es auch schlicht Einsamkeit nennen. Aber das ist natürlich Unsinn. Wie auch immer. Abende, die solchen Sturm-und-Drang-Koliken folgen, verbringe ich oft in den diversen Clubs meiner Heimatstadt. Eigentlich ist hier alles vorhanden, was ich vorher beschrieben habe. Ausgehen. Leben. Party. Mädchen. Körper. Mädchenkörper. Moment, etwas fehlt aus der vorherigen Auflistung. Kontakt. Er ist es, der so oft bei meinen Expeditionen ins Leben fehlt. Natürlich, es liegt vor allem an mir. Ich gehöre nicht zu den Kontaktmonstern der Sorte "Hallo-mein-Name-ist-Steve-ich-steh-auf-Prodigy-du-siehst-einfach-toll-aus-gehn-wir-zu-dir-oder-zu-mir?" Ich bin für vorsichtige, unaufgeregte Annäherung. Müsste eigentlich auch klappen, oder? Klappt aber nicht. Woran liegt das nur? An meinem Gesicht? Meinem Jeanslabel? Meinem Movecode? Alles falsch. Inzwischen weiß ich, woran es liegt. Es ist eigentlich ganz einfach. Sie sind eben selten, die Kontaktmonster. Die meisten, die mich interessieren, sind auch keine. Uns so entsteht das, was ich gerne negative Interaktion nenne: Ich werde nicht aktiv, darauf reagierst du mit ebensolcher Inaktivität. Das wärs dann. Der Rest ist bekannt. Langsames Absacken des Stimmungspegels, Unterschreiten der roten Linie, Frustration, einsamer Heimweg. Also bleibt doch nur wieder Handeinsatz. Nein, nicht dazu, sondern für das vorher erwähnte Streunen durch virtuelle Computeruniversen. Bin ich dazu verdammt, bis ans Systemende ein Schattendasein zu fristen? Bin ich nicht. Ich habe es gelesen. In den Entwicklungslabors des Unterhaltungsriesen Philips entsteht derzeit die Lösung all meiner Probleme. Und sie heißt: Hot Badges. Es sind, ich muss es eingestehen, Computer. Kleine Computer. Ganz kleine Computer. So kleine Computer, dass man sie sich ans Hemd stecken kann. Oder an die Bluse. Oder an die Jeans. Oder an die Lederjacke. Oder - wenn man hart unterwegs ist - sich einen durch den Oberarm piercen kann. Rettung auf der Flucht vor dem Computer durch einen Computer? Warum nicht. Um wie vieles anders funktionieren zum Beispiel Antibiotika? Natürlich darf man sich in diesem Fall den ganz kleinen Computer nicht so vorstellen wie einen großen Computer - nur eben klein. Hot Badges haben keine Tastatur und auch kein Keyboard. Und aussehen tun sie auch nicht wie ein Computer. Eher wie ein Mini-Kuheuter aus Bonbonmasse. Das zum Lieferumfang gehörende Eingabegerät befriedigt schon eher diesbezügliche Erwartungen. Es dient dazu, das eigene Badge mit persönlichen Daten aufzuladen. Was mag ich besonders gerne? (Ja, was eigentlich??) Surfen, richtig. Und Akte X gucken. Und Campari Orange. Und Spanienurlaube. Zärtlichkeit, richtig. Treue? Nächste Frage. Etwas vergessen? Egal, das Hot Badge lässt sich beliebig oft neu programmieren. Man kann davon halten, was man will, aber man muss eingestehen: Mit den Hot Badges ist den Philips-Entwicklern ein Geniestreich gelungen, der dem Tamagotchi in nichts nachsteht. Meiner Meinung nach wird der Hot Badges-Craze den der digitalen Kuscheleier haushoch übertrumpfen. Ich kann mir jetzt schon vorstellen, wie es sein wird. Das personalisierte Badge am Sakko, betrete ich meinen Lieblingsclub. Auf den ersten Blick entdecke ich rund 30 andere Badge-Träger (und vor allem: Trägerinnen). Das an sich unterscheidet Hot Badges noch nicht von früheren Modehysterien. Das andere, grundsätzlich neue Element wird offensichtlich, wenn eine Badge-Trägerin mit übereinstimmenden Interessen in den Sende- und Empfangsbereich meines Badges gerät: Dann nämlich beginnen beide, wie wild zu blinken. Ich lasse es mir nicht nehmen: Die Zurückhaltenden haben meist mehr zu bieten als die Forschen. Es wird Zeit, dass sie zueinanderfinden. Wenn Hot Badges ihr Schärflein dazu beitragen können, seien Philips die paar lumpigen Milliarden, die sie damit verdienen werden, von Herzen gegönnt.
Online-Communities ist das Schlagwort, das derzeit fast jeden Marketingchef im Zusammenhang mit Webpräsenz in euphorische Raserei versetzt. Nun endlich, nach mehr als einem Jahrzehnt, haben die Manager die Wahrheit erkannt: Das Netz ist kalt. So schufen sie einen Begriff und sonnen sich seitdem in der putzigen Fehleinschätzung, etwas Neues entdeckt zu haben: Netzwärme. Die Erkenntnis, dass sich Online-Gemeinschaften etablieren müssen, bevor eine Webpräsenz irgendeinen wirtschaftlichen Nutzen generieren kann, ist ungefähr so revolutionär wie die Idee einer Autofirma, das erschreckt zur Kenntnis genommene Umweltbewusstsein ihrer Kunden mit dem dümmlichen Slogan "Wir haben verstanden" zu parieren. Nun denn: Diese Firma erhält derzeit die Quittung für ihre Auffassung von Firmenkultur. Schadenfreude sei erlaubt - man gönnt sich ja sonst nichts. Also gut, von mir aus "Netzwärme". Dass ich dabei zwanghaft an glühende Kabel denken muss, soll dahingestellt bleiben. Die Unternehmen wissen jetzt, dass es uns gibt. Wir chatten in Chatrooms, wir diskutieren in Foren und Newsgroups, wir wandern durch mehr oder weniger gelungen gestaltete, virtuelle Onlinewelten. Tolle Sache. Und was noch? Ach ja, ganz wichtig: Wir sind innovativ, technisch interessiert und (Bingo!) kaufkräftig. Was will man mehr? Wie alles Gute, so haben auch wir einen Wermuthstropfen. Oder besser: Wir sind ein Wermuthstropfen. Oder noch besser: Der Umgang mit uns als Zielgruppe beinhaltet einen Wermuthstropfen. Wir sind nämlich nicht ganz normal. Echt. Gail Williams kennt uns genau: "Die besten Kanditaten für Online-Gemeinschaften sind sprachgewandte Menschen, die in der realen Welt nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie benötigen." Das sitzt. Und Gail Williams ist nicht irgendwer, sondern von der Online-Urgemeinschaft The Well. Nun, für sich selbst hat Williams mit dieser Sentenz sicher die Aufmerksamkeit erzeugt, die er benötigt. Zurück zu den Unternehmen und ihren Community-Initiativen. Das Ganze hätte so einfach sein können, denkt sicher so mancher Onkel Werbeleiter. Eine konsumgeile Zielgruppe wie sie im Marketinglehrbuch steht, superschnell via Internet zu erreichen - und nun stellt sich heraus, dass es sich um lauter geschwätzige Wichtigtuer handelt - wie gemein! Und was das Schlimmste ist: Wie soll man das seinem Therapeuten klarmachen? Das Schöne an deutschen Unternehmen sind die Selbstheilungskräfte ihrer Manager. Sie werden darüber hinwegkommen, bestimmt. Sie werden nicht nur darüber hinwegkommen, sondern sogar eine Lösung finden. Sie werden erkennen, dass die Gschaftelhuberei ihrer Zielgruppe die eigentliche Chance darstellt. "Ist ja toll, dass die sich so wichtig nehmen!" wird Onkel Werbeleiter zu Tante Werbeleiter sagen. "Das kommt uns wie gerufen! Wir richten denen einen tollen Chatroom ein, da können sie sich dann gegenseitig volllabern, und wir jubeln ihnen unterschwellig unsere Message unter! Wir haben verstanden!" Aber das ist nur der Anfang. Langsam, ganz langsam, bröselt ins Bewusstsein der Kreativen ein ungeheuerlicher Gedanke. Da gibt es doch noch etwas? Hat man nicht vorgestern auf dem PC von Tante Werbeleiter so ein grafisches Onlinedingsbums gesehen? Eine virtuelle Welt - so zumindest nennen sie die Verrückten, die sie betreiben. Und drinnen lauter Apalare, oder wie die heißen ... Und während der Festtagskaffee in der Tasse von Onkel Werbeleiter langsam zu vibrieren beginnt, hat er eine geniale Idee. Nicht ein popeliger Chatroom wird an die eigene Website geklebt, sondern ein grafisches Onlinedingsbums, komplett mit Straßen, Häusern, Geschäften und vielen, vielen Apalaren. Was eröffnet das für kommerzielle Möglichkeiten! Natürlich keine tumbem Verkaufsaktionen oder drögen Produktpräsentationen, nein, nein! Das firmeneigene Onlinedingsbums wird ein Musterbeispiel für aktives ... aktives ... mal nachsehen ... Szenensponspring! Genau! Und außerdem ist das Dingsbums der ideale Einsatzort für ... na! ... für ... das stand doch zwei Seiten weiter ... Trendscouts! Ich freue mich schon heute. Ich freue mich auf das Davidoff-Cigarrenforum (mit Arnold Schwarzenegger als Ehren-Apalar), den Melitta-Experten-Chat, die virtuelle VIP-Lounge des Frankurter Flughafens. Von Natur aus sprachgewandt, werde ich überall meine textlichen Duftmarken hinterlassen. Ich kann es kaum mehr abwarten, geltungsbedürftig, wie ich bin. Denn auch ich habe verstanden.
Die glücklicheren unter den Verbannten landen auf Chatwelten, wo sie auf andere Gestrandete treffen, um mit ihnen die Botschaften ihrer User auszutauschten. Schlechter haben es diejenigen, die es auf kriegerische, tödliche Kampfwelten verschlägt, wo sie, in die Rollen mehr oder weniger plausibler Helden gezwängt, gegen die ungeheuersten Monster, die ausgefeiltesten Fallen, die mächtigsten Magier und die verzwicktesten Rätsel zu kämpfen haben. Lara Croft gehört zu dieser Gruppe. Zehntausende unbedarfter Spielekäufer haben die hochtrainierte Kämpferin durch ihre Welt gejagt, sie in tiefe Schluchten fallen lassen, sie durch ungeschickte Handhabung den unterschiedlichsten Monstern zum Fraß vorgegworfen. Sie wurde zerstrahlt, zerbombt und zerquetscht. Ratlose Spieler führten sie in aussichtslose Lagen, aus denen es keinen anderen Ausweg als das letzte Savegame gab. Ist es ein Wunder, dass mit der Zeit dunkle Vergeltungspläne in Laras Herz aufglommen, Rachegedanken, nicht gemildert auch durch versöhnliche Neustarts vor dem aktuellen Spielfehler? Während die ahnungslosen Eidos-Programierer in satter Serbstzufriedenheit neue Landschaften und Kampfszenen programmierten, nutzte Lara die Wartezeit bis zum Launch von Tomb Raider 2. Wie eine sprungbereite Tigerin lauerte sie auf ihre Chance. Und die kam, als bei den Entwicklern der Gedanke aufkam, den Tomb Raider Soundtrack als eigenständige Musik-CD auf den Markt zu bringen. "A Tribute to Lara Croft" enthält neben Orginalsounds aus dem Spiel auch eigens für die Platte produzierte Tracks von Apollo 440, Gary Numan, Project Pitchford, Beanfield und disJam. Dazu kommen Tribute-Songs von Die Fantastischen Vier, WestBam, Faith No More, Yello, Moby, Depeche Mode, Underworld, Jimi Tenor und anderen. Ganz unauffällig hat Lara die Chance genutzt, einen Teil ihrer Virtualität abzulegen: Zum ersten Mal ist ein Avatar auf einer Musik-CD mit eigener Stime zu hören. Doch das ist nur der Anfang. Lara wird sich damit nicht zufriedengeben. Auf sie warten die Freuden eines körperlichen Daseins. Niemand ahnt, welche Macht sie bereits errungen hat. Der letzte Schritt zur materiellen Existenz ist kleiner als so mancher glaubt. Darum: Achte auf besondere Vorkommnisse, wenn du die CD einlegst. Verhält der Player sich irgendwie merkwürdig? Hat er noch direkten Kontakt mit dem Regalboden? Dringt aus seinem Inneren nicht ein blaues Flimmern? Weht nicht eiin Lufthauch durchs Zimmer? ...
Auch hier sind treue Douglas-Adams-Leser der restlichen Menschheit ein Stück voraus. Sie wissen, dass Deep Thought für die Suche nach der richtigen Frage einen noch größeren Computer baute (er hieß Erde, oder so ähnlich). Dieser wurde fünf Minuten vor Ablauf seines Zehn-Millionen-Jahre-Programms durch eine vogonische Baukolonne zerstört, weil er einer neuen Hyperraum-Expressroute im Weg war. Trotz dieser etwas störenden Unterbrechung konnten Arthur Dent und sein extraterrestrischer Freund Ford Perfect die Große Frage ausfindig machen - als von Affenhand gelegten Scrabble-Satz: "Wieviel ist neun multipliziert mit sechs?" Woran weder Arthur Dent, Ford Perfect noch Douglas Adams gedacht hatten: Die Suche nach der Großen Antwort auf die Große Frage betreffs Leben, Universum und allem sowie die anschließende Recherche nach der kompetenten Großen Frage selbst wurde von einem körperlichen Computer ausgeführt, mochte er nun Erde, Thunfisch oder sonst wie heißen. Entsprechend gelten Antwort und Frage (bitte Reihenfolge beachten!) auch nur für körperliche Welten wie den Planeten, den wir Real World (RW) nennen. Für virtuelle Welten wie beispielsweise Dreamscape treffen beide Elemente nicht zu. Sie zu finden, wäre Aufgabe eines virtuellen Computers. Was also ist der Sinn des virtuellen Lebens? Oder genauer gefragt: Wie lautet die Große Antwort auf die Große Frage nach dem virtuellen Leben, dem virtuellen Universum und allem sonstigen Virtuellem? Und, bitte, wie lautet die Große Frage selbst? Richtig gestellt, meine ich. Irgendwie läuft die Suche nach Antwort und Frage hier anders als in RW. Wenn in unserer körperlichen Welt (heißt sie nicht zufällig auch Erde?) jemand behauptet, die Antwort laute "42" und die Frage "Wieviel ist 6 mal 9?" so können wir das lustig finden, oder faszinierend, oder abgrundtief blöde, aber wir können es nicht eindeutig widerlegen. Wir können es nicht, weil wir nicht die Schöpfer dieses Planeten sind und dem zu Folge für ein abschließendes Urteil nicht über ausreichend fundiertes Insiderwissen verfügen. Vielleicht ist die Schöpfung ganz einfach? Vielleicht ist jeder angehende Schöpfer bereits im Anerkennungsjahrtausend in der Lage, ein Universum aus dem Nichts zu zaubern, indem er laut "42!" ruft? Dass es in der virtuellen Umgebung nicht ganz so einfach ist, können wir mit Bestimmtheit sagen, denn virtuelle Welten sind ein Werk menschlichen Geistes. Auch, wenn wir an der Programmierung nicht teilgenommen haben, selbst, wenn wir von Programmierung nicht die leiseste Ahnung haben, kann jeder einzelne von uns wissenschaftlich nachweisen, dass weder die Große Antwort, noch die Große Frage hier weiterhelfen. Jeder kann den unumstößlichen Beweis in den eigenen vier Wänden durch drei einfache Schritte nachvollziehen: Schritt 1: Computer einschalten und davorsetzen. Es kann als allgemein gültige Erkenntnis gelten, dass diese drei Schritte nicht zur Entstehung einer virtuellen Welt führen. Das funktioniert ganz anders hier. Aber wie? Was ist nun der Sinn meines virtuellen Lebens? 29? Reife Avocados? é-%'##2? Und die Frage? Wie lautet die Frage? Wenn ich im Rahmen meiner körperlichen Existenz im fahrenden Auto meinen Palmtop-Computer auf der Mittelkonsole balanciere, um mit meinem Gesprächspartner am Handy einen Termin zu vereinbaren, mich dabei geschickt zur Seite wende, um das Funktelefon vor den Polizisten im Streifenwagen nebenan zu verbergen - ohne dabei den Motorradfahrer vor mir in das kleine Straßencafé gegenüber zu katapultieren, drängt sich mir hin und wieder die Frage auf, ob ich mit dieser Art der Lebensgestaltung mehr Sinnfälligkeit entwickle als beispielsweise Nachbars Katze, die zwischen absolvierter Mäusejagd und anstehender Nachtwanderung kurz bei mir auf ein Schälchen Trockenfutter und ein paar Streicheleinheiten vorbeischaut. Was ist so unwahrscheinlich sinnvoll daran, Höhle, Futter und Weibchen auf unglaublich komplexen, hochtechnisierten, hochzivilisierten Um-, Neben- und Irrwegen zu erlangen? Der Schöpfer (42?) hat mich in meiner Eigenschaft als Mensch gegenüber den anderen Lebewesen auf diesem Planeten erhöht, indem er mir die einzigartige Gabe des selbsterkennenden Geistes verliehen hat. Ich bin in der Lage, mein Ich zu definieren, mein Tun und Denken zu reflektieren und kreativ tätig zu sein. Tolle Sache. Nur - wo ist der Sinn? Am Ende bin ich genau so tot wie der Rauhhaardackel, den ich bei meinen Fahrmanövern übersehen habe. Der Sinn, du Trottel - sagt der Klerus - liegt im Leben nach dem Tod. Bist du auf Erden ein guter Junge, ist dir die ewige Glückseligkeit sicher. Versprochen. Nun, ich muss sagen, das motiviert irgendwie. Die Sinnfrage erhält auch neue Nahrung - ganz ohne "42" und "Wieviel ist 6 mal 9?". Zumindest war es bei mir eine lange Zeit so - bis ich auf eine für mich sehr unangenehme Folgefrage stieß: Welchen Sinn hat die ewige Glückseligkeit? Zurück in die Virtualität. In Dreamscape - wo mein körperloser Hauptwohnsitz ist - wie auch auf den anderen virtuellen Welten, die ich besuche, konnte ich bisher weder eine vernünftige Große Antwort noch eine ebensolche Große Frage finden. Aber etwas anderes habe ich entdeckt: Entgegen meiner körperlichen Existenz, in der mich die Sinnfrage immer wieder anspringt, bin ich im virtuellen Leben von der Suche nach dem Warum völlig unbelastet. Damit habe ich - ganz unbeabsichtigt - höchstwahrscheinlich die Große Antwort auf die Große Frage nach dem virtuellen Leben, dem virtuellen Universum und allem sonstigen Virtuellen gefunden. Sie heißt: "Mir egal." Die Große Frage möge dann meinetwegen "Sind Gehirnzellen dumm?" lauten.
Das Locale war voll besetzt, ich konnte nicht sichtbar werden. Ich sandte einen Gedankenimpuls an Juney. Sie reagierte positiv. Ich ESPte etwas über ihre roten Haare, die mir so gut gefielen. Sie verlangte mich zu sehen. Die Gelegenheit fand sich bald. Ich hatte Glück: Juney fand mich sexy. Rückblickend kann ich sagen: Es war Liebe auf den ersten Blick. Etwa eine Woche, nachdem ich für uns ein gemeinsames, virtuelles Apartement gemietet hatte, verschwand Juney zum ersten Mal. Sie kam weder zu den Verabredungen, noch antwortete sie auf meine E-Mails. Dann, nach zwei Monaten, plötzlich eine Nachricht. Sie hatte bei dem Versuch, für ihren neu angekommenen Bruder einen Avatarkörper zu kaufen, versehentlich selbst einen anderen Körper erhalten. Sie dachte, man könne den Körper in der Körpermaschine erwerben, ihn in die Tasche stecken und dann einem anderen Avatar geben. Und weil sie in ihrer Schusseligkeit zu allem Überfluss auch noch den dicken Männerkörper erwischt hatte, schämte sie sich, mir so unter die Augen zu treten. Sie wollte zuerst die erforderlichen Token zusammensparen, um sich wieder ihren früheren Körper zu besorgen. Natürlich ließ ich das nicht zu. Nachdem ich ihr das Geld für einen neuen Körper geschenkt hatte, trafen wir uns an der Körpermaschine, wo sie den alten Zustand wieder herstellte. Rückblickend kann ich nicht mehr begreifen, wieso ich Juneys Geschichte geglaubt habe. Etwa eine Woche später verschwand sie wieder. Diesmal für immer. Ich hatte meine Lektion gelernt. Für viele ist die Existenz in einer virtuellen Welt nicht etwa die idealisierte Reflexion der Realität. Eine große Zahl derer, die sich hier aufhalten, sieht in ihrer Cyberexistenz nichts weiter als die Gelegenheit zur konsequenzlosen Anarchie. Unterdrückte Ängste und Defizite lassen sich hier ohne Furcht vor unangenehmen Folgen ausleben. Dabei sind Diebe nur die harmlose Spielart einer erheblich brutaleren Variante der virtuellen Desperados. Aus der Sicherheit der Anonymität heraus lassen sich alle in der Realwelt undenkbaren Schweinereien begehen: Lüge, Betrug, Untreue und Gleichgültigkeit sind in der virtuellen Gesellschaft nichts als online veranlasste Computerbefehle. So zumindest sehen es diejenigen, die eine stille Sehnsucht nach dem Bruch gesellschaftlicher Tabus in sich herumtragen und nicht den Mut finden, sie in der realen Welt auszuleben. Was bedeutet es schon, einer Anhäufung bunter Pixel das "Herz" zu brechen? Wahrscheinlich ist es eine fortgeschrittene Methode ichbezogener Verdrängungstechnik, die bei den so Agierenden die Erkenntnis blockiert, dass sich am anderen Ende der virtuellen Nabelschnur ein echter Mensch mit Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten befindet. Vielleicht ist es aber auch gerade dieser Umstand, der die Loslösung von ethischen und menschlichen Werten verlockend und faszinierend macht. Ich kann das nicht nachvollziehen. Für mich bedeutet der Aufenthalt in einer virtuellen Welt die Chance, einiges besser zu machen als auf der anderen, nüchternen Seite. Im Umgang mit Avatarmädchen bin ich vorsichtig geworden. Sympathiebekundungen begegne ich mit großen Vorbehalten. Wer möchte schon gerne zweimal an der selben Stelle verletzt werden? Vielleicht ist das die falsche Konsequenz. Ich kann es nicht ändern. Von allen mir bekannten weiblichen Wesen auf Kymer gäbe es nur eine, der ich vertrauen würde. Und die ist schon vergeben.
Michael Jackson ist der erste Real-World-Avatar. Der Fehlinterpretation, es handele sich um einen Menschen, hat die Kunstfigur des Pop selbst jede Basis entzogen. Gewiss, es gibt frühe Fernsehaufnahmen, in denen er im Kreise einer Musikerfamilie zu sehen und zu hören ist. Den Schwächen jener Epoche ist sich der Avatar Jacko jederzeit bewusst. Der damalige Entwurf war nicht ausgereift. Das Design war - der Zeit entsprechend - auf naturalistische Hippie-Philosophie ausgerichtet. Das hatte zu seiner Zeit sicher Berechtigung: Computer waren ein exotisches Spielzeug, das Internet eine nebulöse Phrase, Onlinekommunikation Thema für Science-Fiction-Autoren. Ein Avatar in jener Zeit hatte noch nicht das richtige Medium für seine Existenz. Avatare lebten mitten unter uns, getarnt, menschenähnlich. Sie waren Stellvertreter, gewiss. Aber ihre Stellvertreterrolle mussten sie subtil spielen, unterschwellig. Der Kulturschock der Fangemeinde wäre sonst zu heftig gewesen. Zu erkennen, dass man ein Phantom verehrt, seine Liebe an ein Luftgebilde verströmt, hätte unweigerlich zum Absturz des Popkonstrukts geführt. Heute, angesichts Active-X-gesteuerter Emotionen, ist das für die Zielgruppe kein Problem mehr. Einen Avatar zu lieben, stellt keine allzu große Abweichung von der dominierenden Gefühlswelt dar. Im Gegenteil. Virtualität ist ein feiner Filter. Alle negativen Komponenten körperbasierender Beziehungsarbeit lassen sich fernhalten. Der Avatar ist der ideale Liebhaber. Er besteht nur aus positiven Eigenschaften. Es ist die Visualisierung intimster Träume. Er kennt keine Schwächen, keine Ängste, keine Unsicherheit. Ein Avatar macht es dir so, wie du es immer haben wolltest: einfühlsam, gewandt und dennoch unschuldig. Heutige Real-World-Avatare müssen als solche zu erkennen sein. Der Avatar Jacko hat eigendynamisch dafür gesorgt, dieser Anforderung zu genügen, Er hat seine Stilistik banalisiert und plakativ übersteigert, bis sie sich verlustfrei in Pixel auflösen und in eine 256-Farben-Grafikumgebung transferieren lässt. Er hat seinen Avatarkopf solange modifiziert, bis sich alle individualistischen Elemente zugunsten einer idedalisierten Verallgemeinerung verflüchtigt haben. Es hat andere Real-World-Avatarprojekte gegeben. Solche Versuche starteten bereits vor Mitte des Jahrhunderts. Damals kristallisierte sich - aktiviert durch die erblühenden Medien Film und Fernsehen - die Notwendigkeit heraus, dass im Geschäftsinteresse wieder Götter auf Erden wandeln müssen. Damals rief man noch Götter an, denn der Avatar als virtueller Messias war noch nicht gefunden. Projekt: Clark Gable. Dieser erste - gelungene - Versuch, Wunschträume in Mensch-Zitate umzuwandeln, war Ausgangspunkt für eine Reihe weiterer, höchst erfolgreicher Avatarkonzepte: Projekt Marilyn Monroe, Projekt Humphrey Bogart, Projekt Jane Mansfield, Projekt James Dean, Projekt Ingrid Bergmann. Auch fehlgeschlagene Versuche gibt es: Projekt Elvis Presley, das daran scheiterte, dass ein echter Mensch einen Avatar simulieren wollte. Der Avatar Jacko unterscheidet sich prinzipiell von all diesen vorangegangenen Avataren. Er ist der erste, der nicht mehr dem Zwang unterliegt, menschenähnlich erscheinen zu müssen. Im Gegenteil. An der Schwelle zur globalen Netzgesellschaft brauchen wir Abgesandte des Cyberspace in unserer, per Definition "wirklichen" Welt. Der Avatar Jacko hat das erkannt, und mit ihm seine User, in Heerscharen. Immer noch keine Bewegung auf der riesigen, von Nebelschwaden umwölkten Bühne. Die Steuerimpulse der Liebenden zu Jackos Füßen zucken unvermindert herauf. Kein Crash! Es darf einfach kein Crash sein! Bitte, Jacko, bitte, bitte! - Da, das System fährt hoch. Der Datenstau scheint beseitigt. Kein Crash, dem Betriebsystem sei Dank. Jacko reagiert auf die Impulse seiner User. Mit leichter, anmutiger Geste fasst er zwischen seine Beine.
Das ist erfreulich. Schließlich soll man nicht nur vor dem PC sitzen. Selbst, wenn er Chatwelten wie den Dreamscape produziert (oder heißt es: das Dreamscape?). Was mich betrifft: Ich bin gerne unter Menschen. Nicht nur unter virtuellen. Auch den anderen. Denjenigen, die mir Schmerzen verursachen, wenn sie mir auf den Fuß steigen, oder auf die Seele. Irgendwie haben die auch etwas. Bei manchen von Ihnen erstrecken sich die Ausdrucksmöglichkeiten sogar über mehr als zehn vorprogrammierte Gesten. Es gibt Momente, da bespringt mich die unheimliche Ahnung, dass körperliche Menschen meinen Avatarfreunden etwas voraus haben. Irgend etwas. Ich komme jetzt zwar nicht darauf, was, aber es gibt etwas. Ich kenne da zum Beispiel eine junge Frau. Sie hat so eine Art, sich durch die Haare zu streichen - also - da kommen nicht einmal die Doppelklickflüge der schlanken Avatarmädchen mit. Ehrlich. Aber ich schweife ab. Was wollte ich eigentlich sagen? - Ach ja: Ich gehe gerne unter Menschen. Immer? Nein. Aber immer öfter - besonders, seit es den Kunstpark Ost gibt. Der mittlerweile aufgelassene alte Flughafen war bereits ein interessantes Vorstadium, aber weit weg, viel zu weit. Und windig. Aber jetzt, für eine Nacht im Kunstpark, lohnt sich der vereinzelte Griff nach dem PC-Ausschalter. Untergebracht auf dem früheren Produktionsgelände der Firma Pfanni (genau, die mit den Knödeln!), finden sich jetzt in jedem der weitläufig verstreuten Industriebauten irgendwelche Partyhallen, Dancegewölbe, Bars oder Cafés. So dunkel kann ein Eingang gar nicht sein, so verlassen ein Bauwerk gar nicht wirken, als dass sich hinter seinen Mauern nicht doch - völlig überraschend - ein abgedrehter Club befindet. Und da auch das Ultraschall seine Zelte vom alten Flughafen in den Kunstpark verlegt hat, ist die Welt in Ordnung hier. Ja, auch der Kunstpark ist eine Art Cyberwelt. Nicht gerade Virtual Reality. Eher schon Real Virtuality. Jede Welt braucht eine Weltmetropole. Was dem Planeten Erde sein Plattling (oder vielleicht New York?) und dem Universum sein Restaurant am Rande desselben, das ist dem Kunstpark seine Nachtkantine. Ein Riesencafé in einer Riesenhalle, laut, dunkel und schön. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Dieser Laden und ich - wir passen einfach zusammen. Der erste Besuch wird mir lange in Erinnerung bleiben, denn er beamte mich weg von zu Hause, weg vom PC, weg von meiner virtuellen Heimat auf Kymer, direkt hinein ins pralle Echtleben - und von dort mit lautem Aufprall wieder in den Cyberspace. Was war passiert? Ich will es euch erzählen. Mein erster Besuch im Kunstpark also. Ich wandle forschen Schrittes durch die verwinkelten Gassen zwischen den aufragenden Industriebauten. Da - ein großes Lokal, mit großen Fenstern. Drinnen sitzen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft. Ganz meine Linie. Was blendet mich denn da? Ach so, die Neonreklame. "Nachkantine", hmm. Gut, einfach hineingehen, was kann schon sein? Zwei Eingänge, wie protzig! Oh, aber cool hier! Und diese Riesenbar! Wunderbar! Gleich einmal dranstellen! Was nehme ich denn nun? Bier? Igitt. Wein? Pfui Deibel, doch nicht hier. Einen Cocktail? Wer weiß, was hier für Giftmischer arbeiten. Wiener Schnitzel? Passt nicht ins Glas. Milchkaffe! Das isses! So, jetzt aber gucken! Erst zehn Uhr, und schon voll. Das am Mittwoch! Ist morgen etwa ein Feiertag? Interessante Mischung hier - von allem etwas! Nein, doch nicht von allem! Keine Kaminkehrer da, auch keine Inderinnen im Sari mit rotem Punkt auf der Stirn! Schade. Auf Inderinnen im Sari mit rotem Punkt auf der Stirn hätte ich heute Appetit. Die Kaminkehrer fehlen mir nicht so. Was blinkt denn da hinten so bunt? Ein Spielautomat? Nein, die Flipper stehen genau auf der anderen Seite des Saales. Irgendwie kommt mir das so bekannt vor. Wenn das Ding nur nicht so weit weg wäre! Da ... da sitzt doch einer davor! Ich weigere mich zu glauben, was ich ahne! Nein, es darf nicht sein! Der Milchkaffe ist alle. Ziemlich kleine Tasse für fünf Mark. Typisch. Noch einen? Vielleicht später. Jetzt sollte man einmal eine kleine Runde durchs Lokal drehen. Nur so, ganz ohne Ziel und Zweck. Einfach schauen, wer da ist. Vielleicht Bekannte. Am besten, ich gehe erst mal da links hinter bis zum DJ, dann rechts abbiegen, immer an der Wand lang. Oh! Na so ein Zufall! Jetzt bin ich doch ganz aus Versehen in die Nähe dieses blinkenden Dings geraten! Sowas! Meine schlimmsten Befürchtungen werden wahr. Es ist ein PC. Tatsächlich. Mitten im pulsierenden Leben, unter Hunderten von Menschen, wo man nur die Hand ausstrecken muss, um jemandem sein Glas umzukippen, wo so gut wie jeder darauf wartet, jemanden zu finden, um mit ihm oder ihr gemeinsam einsam sein zu können, mitten in einem der interessantesten Lokale Deutschlands weiß so ein armer Irrer nichts besseres als sich auf einen Hocker zu setzen, mit dem Rücken zum Saal, und auf einen Monitor zu glotzen! Ich erinnere mich noch gut. Es war der Augenblick, in dem ich mir allen Ernstes vornahm, die WorldsAway-Software zu deinstallieren. Die Gefühle, die mich beschlichen, schienen einem Horrorfilm zu entstammen. Es war ungefähr so, als träfe man einen alten Freund nach vielen Jahren wieder, aber er schöbe mittlerweile sein gesamtes Hab und Gut in acht Plastiksäcke verpackt in einem geklauten Einkaufswagen durch die Fußgängerzone. Das also würde aus mir werden, wenn ich so weitermachte wie bisher! Ein Geisteszombie, ein Untoter, der seine Vereinsamung mit sich herumschleppt wie einen Faschingsorden aus den Sechziger-Jahren! Und was glotzt der überhaupt an, der Trottel? Reine Textausgabe! Will er sich mit einem Börsenticker wichtig machen? Mal sehen ... Was steht da?? Malboro Chat Line ! Jetzt trifft mich der Schlag! Der geht in eines der kommunikativsten Cafés der Stadt, um sich dort an die Kiste zu hängen und mit Elektronen Textfähnchen auszutauschen! Und dann auch noch ein reiner Textchat. Der Neandertaler! Wieviel Uhr ist es eigentlich? Halb zwölf. Halb drei nachmittags WAT. Auf den zweiten Kaffee werde ich verzichten. Zuviel Kaffee in der Nacht ist nicht gut. Ich könnte ins Ultraschall schauen. Ja, gute Idee. Erst mal raus hier. Malboro Chat Line, ich kriege die Krise! Ziemlich ruhiger Verkehr hier vor dem Ultraschall. Ist ja auch noch recht früh dafür. Am besten, ich gehe erst mal heim, ein bisschen frisch machen. Kann ja später noch einmal wiederkommen. Bei der Gelegenheit werde ich gleich einmal WorldsAway deinstallieren. Malboro Chat Line, also wirklich! Was zuviel ist, ist zuviel! Gleich, wenn ich zur Tür hereinkomme, werde ich das Teufelszeug von der Festplatte pusten. Natürlich muss ich zuerst noch einmal online gehen, um mich von meinen Freunden und Bekannten zu verabschieden. Man weiß ja, was sich gehört. Aber dann wird sofort deinstalliert. Oder spätestens morgen.
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