Gesellige Einsamkeit

Betrachtungen zur neuen Kommunikationswelt
von Nexo of Kystone

München entwickelt sich. Wirklich. Das extravagante Weißbierghetto mit eingebauter Schickimicki-Freilandhaltung bekommt neue Glanzlichter. Bestand das Nachtleben bis vor kurzem im Wesentlichen aus einer Nobeltanzanlage mit manisch-depressiven Türstehern, schießen seit einigen Jahren die Partyhallen nur so aus dem Boden. Wurden noch bis vor kurzem nach ein Uhr früh außerhalb der besagten Nobeltanzanlage auf der Straße befindliche Spät-Raver dem heimischen Schlachthof zur bürgernahen Entsorgung überstellt, machen Großprojekte wie der Kunstpark Ost nun die Nacht zu Tage.

Das ist erfreulich. Schließlich soll man nicht nur vor dem PC sitzen. Selbst, wenn er Chatworlds wie den Dreamscape produziert (oder heißt es: das Dreamscape?). Was mich betrifft: Ich bin gerne unter Menschen. Nicht nur unter virtuellen. Auch den anderen. Denjenigen, die mir Schmerzen verursachen, wenn sie mir auf den Fuß steigen, oder auf die Seele. Irgendwie haben die auch etwas. Bei manchen von Ihnen erstrecken sich die Ausdrucksmöglichkeiten sogar über mehr als zehn vorprogrammierte Gesten. Es gibt Momente, da bespringt mich die unheimliche Ahnung, daß körperliche Menschen meinen Avatarfreunden etwas voraus haben. Irgend etwas. Ich komme jetzt zwar nicht darauf, was, aber es gibt etwas. Ich kenne da zum Beispiel eine junge Frau. Sie hat so eine Art, sich durch die Haare zu streichen - also - da kommen nicht einmal die Doppelklickflüge der schlanken Avatarmädchen mit. Ehrlich.

Aber ich schweife ab. Was wollte ich eigentlich sagen? - Ach ja: Ich gehe gerne unter Menschen. Immer? Nein. Aber immer öfter - besonders, seit es den Kunstpark Ost gibt. Der mittlerweile aufgelassene alte Flughafen war bereits ein interessantes Vorstadium, aber weit weg, viel zu weit. Und windig. Aber jetzt, für eine Nacht im Kunstpark, lohnt sich der vereinzelte Griff nach dem PC-Ausschalter. Untergebracht auf dem früheren Produktionsgelände der Firma Pfanni (genau, die mit den Knödeln!), finden sich jetzt in jedem der weitläufig verstreuten Industriebauten irgendwelche Partyhallen, Dancegewölbe, Bars oder Cafés. So dunkel kann ein Eingang gar nicht sein, so verlassen ein Bauwerk gar nicht wirken, als daß sich hinter seinen Mauern nicht doch - völlig überraschend - ein abgedrehter Club befindet. Und da auch das Ultraschall seine Zelte vom alten Flughafen in den Kunstpark verlegt hat, ist die Welt in Ordnung hier. Ja, auch der Kunstpark ist eine Art Cyberwelt. Nicht gerade virtual reality. Eher schon real virtuality.

Jede Welt braucht eine Weltmetropole. Was dem Planeten Erde sein Plattling (oder vielleicht New York?) und dem Universum sein Restaurant am Rande desselben, das ist dem Kunstpark seine Nachtkantine . Ein Riesencafé in einer Riesenhalle, laut, dunkel und schön. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Dieser Laden und ich - wir passen einfach zusammen. Der erste Besuch wird mir lange in Erinnerung bleiben, denn er beamte mich weg von zu Hause, weg vom PC, weg von meiner virtuellen Heimat auf Kymer, direkt hinein ins pralle Echtleben - und von dort mit lautem Aufprall wieder in den Cyberspace.

Was war passiert? Ich will es Euch erzählen. Mein erster Besuch im Kunstpark also. Ich wandle forschen Schrittes durch die verwinkelten Gassen zwischen den aufragenden Industriebauten. Da - ein großes Lokal, mit großen Fenstern. Drinnen sitzen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft. Ganz meine Linie. Was blendet mich denn da? Ach so, die Neonreklame. "Nachkantine", hmm. Gut, einfach hineingehen, was kann schon sein? Zwei Eingänge, wie protzig! Oh, aber cool hier! Und diese Riesenbar! Wunderbar! Gleich einmal dranstellen! Was nehme ich denn nun? Bier? Igitt. Wein? Pfui Deibel, doch nicht hier. Einen Cocktail? Wer weiß, was hier für Giftmischer arbeiten. Wiener Schnitzel? Paßt nicht ins Glas. Milchkaffe! Das isses!

So, jetzt aber gucken! Erst zehn Uhr, und schon voll. Das am Mittwoch! Ist morgen etwa ein Feiertag? Interessante Mischung hier - von allem etwas! Nein, doch nicht von allem! Keine Kaminkehrer da, auch keine Inderinnen im Sari mit rotem Punkt auf der Stirn! Schade. Auf Inderinnen im Sari mit rotem Punkt auf der Stirn hätte ich heute Appetit. Die Kaminkehrer fehlen mir nicht so. Was blinkt denn da hinten so bunt? Ein Spielautomat? Nein, die Flipper stehen genau auf der anderen Seite des Saales. Irgendwie kommt mir das so bekannt vor. Wenn das Ding nur nicht so weit weg wäre! Da ... da sitzt doch einer davor! Ich weigere mich zu glauben, was ich ahne! Nein, es darf nicht sein!

Der Milchkaffe ist alle. Ziemlich kleine Tasse für fünf Mark. Typisch. Noch einen? Vielleicht später. Jetzt sollte man einmal eine kleine Runde durchs Lokal drehen. Nur so, ganz ohne Ziel und Zweck. Einfach schauen, wer da ist. Vielleicht Bekannte. Am besten, ich gehe erst mal da links hinter bis zum DJ, dann rechts abbiegen, immer an der Wand lang. Oh! Na so ein Zufall! Jetzt bin ich doch ganz aus Versehen in die Nähe dieses blinkenden Dings geraten! Sowas! Meine schlimmsten Befürchtungen werden wahr. Es ist ein PC. Tatsächlich. Mitten im pulsierenden Leben, unter Hunderten von Menschen, wo man nur die Hand ausstrecken muß, um jemandem sein Glas umzukippen, wo so gut wie jeder darauf wartet, jemanden zu finden, um mit ihm oder ihr gemeinsam einsam sein zu können, mitten in einem der interessantesten Lokale Deutschlands weiß so ein armer Irrer nichts besseres als sich auf einen Hocker zu setzen, mit dem Rücken zum Saal, und auf einen Monitor zu glotzen!

Ich erinnere mich noch gut. Es war der Augenblick, in dem ich mir allen Ernstes vornahm, die WorldsAway-Software zu deinstallieren. Die Gefühle, die mich beschlichen, schienen einem Horrorfilm zu entstammen. Es war ungefähr so, als träfe man einen alten Freund nach vielen Jahren wieder, aber er schöbe mittlerweile sein gesamtes Hab und Gut in acht Plastiksäcke verpackt in einem geklauten Einkaufswagen durch die Fußgängerzone. Das also würde aus mir werden, wenn ich so weitermachte wie bisher! Ein Geisteszombie, ein Untoter, der seine Vereinsamung mit sich herumschleppt wie einen Faschingsorden aus den Sechziger-Jahren! Und was glotzt der überhaupt an, der Trottel? Reine Textausgabe! Will er sich mit einem Börsenticker wichtig machen? Mal sehen ... Was steht da?? Malboro Chat Line ! Jetzt trifft mich der Schlag! Der geht in eines der kommunikativsten Cafés der Stadt, um sich dort an die Kiste zu hängen und mit Elektronen Textfähnchen auszutauschen!

Und dann auch noch ein reines Text-Chat. Der Neandertaler!

Wieviel Uhr ist es eigentlich? Halb zwölf. Halb drei nachmittags WAT. Auf den zweiten Kaffe werde ich verzichten. Zuviel Kaffe in der Nacht ist nicht gut. Ich könnte ins Ultraschall schauen. Ja, gute Idee. Erst mal raus hier. Malboro Chat Line, ich kriege die Krise! Ziemlich ruhiger Verkehr hier vor dem Ultraschall. Ist ja auch noch recht früh dafür. Am besten, ich gehe erst mal heim, ein bißchen frisch machen. Kann ja später noch einmal wiederkommen. Bei der Gelegenheit werde ich gleich einmal WorldsAway deinstallieren. Malboro Chat Line, also wirklich! Was zuviel ist, ist zuviel! Gleich, wenn ich zur Tür hereinkomme, werde ich das Teufelszeug von der Festplatte pusten. Natürlich muß ich zuerst noch einmal inworld gehen, um mich von meinen Freunden und Bekannten zu verabschieden. Man weiß ja, was sich gehört. Aber dann wird sofort deinstalliert. Oder spätestens morgen.

 

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