Da
war Schweiß
auf der Stirn,
trotz des kühlen Herbsttages. Die Reaktion trat verspätet ein. Erst
jetzt, eine Minute später, als er den Fuß auf die Rolltreppe setzte,
breitete der Schreck sich aus, klammerte sich in ihm fest. Während der Abwärtsfahrt
zu den Sperren der U-Bahnstation spulte sich die letzte Szene in seinem Gedächtnis
noch einmal ab. Woher der Bus unvermittelt aufgetaucht war, konnte er sich nicht
erklären. Das Geräusch der großen, blockierenden Räder auf
dem Asphalt war neu für ihn; ein tiefes Kreischen, fordernd und klagend zugleich.
Frequenzen, die Urängste freilegen.
Er konnte nicht mehr nachvollziehen, wie er dem Fahrzeug entgangen war. Als er, alarmiert vom Lärm der schlitternden Reifen, entsetzt den Kopf herumgerissen hatte, nahm der Bus bereits sein gesamtes Gesichtsfeld ein; eine gnadenlose Wand aus lackiertem Metall und Chrom, die sich auf ihn zubewegte. Für die Sekunden danach versagte seine Erinnerung.
Er ging durch die Sperre, zur zweiten Rolltreppe. Ein Zittern kroch durch seine Oberschenkel, am Gaumen haftete der Geschmack von Adrenalin. In rhythmischen Abständen war Druck auf seiner Brust, so, als würde sie zusammengepreßt. Er fürchtete, nicht mehr atmen zu können. Pulsierend wiederholte sich der Eindruck.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Dann hörte es auf.
Er trat unten von der Rolltreppe, ging auf den Bahnsteig zu. Das Zittern der Oberschenkel verebbte langsam. Der große Raum war mit Menschen gefüllt, wie immer um diese Zeit. Aus der Entfernung erhob sich das noch leise Wispern des herannahenden Zuges, das Singen der vibrierenden Schienen. Mit den anderen Wartenden trat er an die Bahnsteigkante, den Blick auf das schwarze Loch des Tunnelausgangs gerichtet. Seine Gedanken kehrten auf die Straße zurück, suchend, doch an die Zeit vom Zusammentreffen mit dem Bus bis zum Betreten der Rolltreppe konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Vielleicht eine Schutzreaktion? Schutz wovor?
Die beiden Lichtpunkte im Tunnel wurden rasch größer; dann beleuchtete der Zug sich selbst durch die Reflektion der Scheinwerfer an den Schachtwänden. Während die Bahn sich näherte, kam Ruhe über ihn. Der Fahrtwind, den der Triebwagen vor sich herschob, blies durch sein Haar; er spürte es kaum. Bleierne Schwere füllte ihn aus, langsam, von unten nach oben. Als der Zug hielt, ging sein Blick durch das Wagenfenster vor ihm, starr, verständnislos. Die Schiebetür, etwa zwei Meter nebenan, glitt auf. Ein Personenknäuel quoll heraus, verteilte sich. Die Menschen um ihn herum drängten durch die Tür ins Innere des Wagens, eilig, zielbewußt, automatisch. Noch immer starrte er auf das Fenster, sah Personen, die vorher neben ihm gestanden hatten, im Wagen ihre Plätze einnehmen. Die Ruhe in ihm war wie zähes Öl. Trotzdem hätte er sich bewegen können, hätte nur drei Schritte nach rechts gehen müssen, um in den Wagen zu gelangen. Er blickte auf die Anzeigetafel - die erste Regung, seit der Zug eingefahren war. Seine Linie. Natürlich, auf dieser Station hielt keine andere.
Die Türen des stark belegten Zugs schlossen sich. Als die Waggons sich langsam in Bewegung setzten, folgten seine Augen dem Fenster, durch das er die ganze Zeit über gestarrt hatte, wurden dann von den Rücklichtern abgelenkt, sogen sich an ihnen fest, bis die Bahn hinter einer Biegung in der gegenüberliegenden Tunnelröhre verschwand. Langsam löste sich das Gefühl der Schwere wieder von ihm.
Er wollte nachdenken. Nachdenken über etwas Wichtiges. Nachdenken. Warum er nicht eingestiegen war. Doch seine Gedanken glitten ab wie von einer nassen Steinwand. Etwas irritierte ihn. Je intensiver er versuchte, sein Verhalten zu analysieren, desto heftiger waren die Ablenkungskräfte. Etwas um ihn herum hatte sich verändert, irgendetwas ...
Die Stille. Das war es. Eine zentrale U-Bahnstation wie diese kommt in den späten Nachmittagstunden nicht zur Ruhe; während ein Zug ausfährt, fluten schon neue Menschenströme ein. Normalerweise.
Hier war es ruhig, unnatürlich, bedrohend. Er sah sich um; außer ihm standen noch sechs Personen da. Waren sie ebenfalls nicht eingestiegen oder inzwischen neu angekommen? Er wußte es nicht. Die Bänke waren leer; die sechs standen verteilt über die ganze Länge des Bahnsteigs, still, den Blick gerade nach vorne auf die Wand hinter dem Gleis gerichtet.
Wieder fühlte er das rhyhmische Drücken in der Brust:
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Angst kam in ihm hoch. Angst davor, die Fähigkeit des Atmens zu verlieren. Er verspürte den starken Drang, auf eine der wartenden Personen zuzugehen, sie anzusprechen, um Hilfe zu bitten. Das Drücken hörte auf.
Als er sich wieder umsah, waren ungefähr zwanzig Menschen anwesend. Die Stille war dieselbe geblieben; auch die Neuangekommenen standen schweigend, blickten über das Gleis hinweg auf die Wand mit den großen Werbetafeln. Niemand setzte sich, niemand wechselte den Standort. Drei Kinder waren hier, still wie die anderen; ein junges Pärchen stand Hand in Hand in der Nähe des Ausgangs, ihre Blicke begegneten sich nicht. Kälte breitete sich in ihm aus.
Der nächste Zug kam unerwartet; die Anzeigetafel war leer geblieben. Türen öffneten sich, gaben den Zugang frei in unbesetzte Abteile. Mittlerweile waren noch mehr Personen eingetroffen. Er stieg ein, beobachtete die anderen. Der Wagen wurde halb voll.
Sie tauchten in den Tunnel ein, und seine Gedanken kehrten an den vorangegangenen Markierungspunkt zurück, zu dem Augenblick, als sich die Türen des vorigen Zuges geschlossen hatten. Warum nur war er nicht eingestiegen? Er erinnerte sich an Geschichten über abgestürzte Flugzeuge, die mit weniger Passagieren besetzt waren als üblich, weil ungewöhnlich viele Reisende ihre Reservierung storniert hatten. Vorahnungen?
Wieder glitten seine Gedanken ab. Was war mit der Zeit zwischen Bus und Rolltreppe? Immer noch diese Gedächtnislücke. Hatte sein Unterbewußtsein eingegriffen? Und wenn ja - warum?
Wie durch einen langsam erlöschenden Traum drangen von außen wieder Irritationen auf ihn ein. Der Blick schweifte durch den Wagen. Keiner der Mitfahrenden hatte bisher gesprochen; alle saßen ruhig auf ihren Plätzen, den Blick gerade nach vorne gerichtet. Die kollektive Apathie um ihn herum forderte eine Deutung - eine Erklärung, die er nicht hatte. Die Blicke der Fahrgäste strahlten Ruhe und eine Art von Erwartung aus; sie waren nur Menschen, die still ihren Zielen entgegenstrebten. Er spürte, daß noch etwas gegenwärtig war, das ihn beunruhigte. Er versuchte, die Ursache zu finden, aber wenn es eine gab, wich sie vor ihm zurück.
Er blickte aus dem Fenster. Das helle Innenlicht ließ es zu einem undurchsichtigen Spiegel werden; nicht einmal die vorbeihuschenden Schachtwände waren zu sehen. Wieder kam Angst in ihm auf. Gerade, als er sie wie seine anderen Gedanken als Nachwirkungen des zurückliegenden Schrecks in abgelegene Regionen seines Bewußtseins verbannen wollte, erkannte er ihre Ursache: Wie lange fuhren sie schon?
Seinem Gefühl nach hätte längst die nächste Haltestelle erreicht sein müssen. Er blickte auf seine Uhr. Wann war er eingestiegen? Er konnte sich nicht genau erinnern; vor fünf oder zehn Minuten muß es mindestens gewesen sein - oder täuschte ihn sein Zeitgefühl?
Noch immer sprach keiner der Fahrgäste. Sie saßen nur da, still, unnahbar. Auch in Massenverkehrsmitteln, den wiedergewonnenen Mutterleibern für gemeinschaftlichen Rückzug aus der eigenen Existenz, gibt es immer einige, die miteinander sprechen, lachen, streiten, lesen, sich ansehen. Andererseits erinnerte er sich an Fahrten am späten Abend, an blasse, schweigsame Wesen, die starr vor sich hinblickend von irgendwoher nach irgendwohin fuhren.
Und das rhythmische Drücken begann wieder.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Unwillkürlich faßte er sich an die Brust, keuchte. Einige der Fahrgäste wandten ihm den Blick zu, Erstaunen trat in ihre Augen, Verständnislosigkeit. Der Anfall dauerte diesmal länger, wollte nicht abklingen.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Endlich, es war zu Ende. Erleichtert sank er in den Sitz zurück, machte einige tiefe Atemzüge, genoß die wiedergewonnene, innere Ruhe.
Eisiger Schrecken durchfuhr ihn, als ihm bewußt wurde, daß der Zug immer noch fuhr. Mindestens eine Viertelstunde mußte seit der Ausfahrt aus dem Bahnhof vergangen sein, oder täuschte er sich? Wieder blickte er auf die Uhr. Welche Zeit hatte er vorhin abgelesen? Krampfhaft dachte er nach, durchforstete sein Gedächtnis - keine Spur von der gewünschten Information war übriggeblieben. Er dachte an den Bus; noch eine Situation, bei der ihn seine Erinnerung im Stich gelassen hatte.
So lange konnte der Zug nicht brauchen. Die Strecke war er oft genug gefahren, er kannte die Zeiten gefühlsmäßig. Er stand auf, ging zu einem Fenster, versuchte hinauszusehen. In der Scheibe spiegelte sich nur das Innere des Wagens mit den bewegungslos dasitzenden Passagieren. Unter seinen Füßen fühlte er das Schlagen der Räder und das sanfte Schaukeln des Zuges in voller Fahrt.
Etwas mußte geschehen. Ohne wirklich zu wollen, sprach er eine junge Frau an, die ihm schräg gegenüber saß. (Fragte, ob sie auch das Gefühl habe, die Bahn fahre schon viel zu lange, müsse schon längst an der nächsten Station angekommen sein.) Allmählich wandte sie ihm den Kopf zu; Staunen breitete sich über ihr Gesicht aus. Ihre Hände hoben sich zu einer vagen Geste, sanken wieder herab. So, als wolle sie etwas sagen, begannen ihre Lippen, sich lautlos zu bewegen, wechselten zu einem schüchternen, schmalen Lächeln. Dann, ebenso langsam, wie sie sich ihm zugewandt hatte, drehte sie den Kopf weg, blickte wieder geradeaus.
Er spürte, wie etwas in ihm zerriß. Es war Zeit, aufzuspringen, zu versuchen, seine schweigsamen Reisegefährten aus ihrer Lethargie zu reißen, sie wachzurütteln, anzuschreien, vielleicht auf sie einzuschlagen. Er fand sich in der Mitte des Wagens stehend wieder, zitternd vor Erregung. Doch dann schwieg er, mit zusammengekniffenen Lippen, die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten geballt. Der Wagen schaukelte, zwang ihn, sich an eine der Haltestangen zu klammern. Merkten sie denn nicht, daß etwas anders ist als sonst, daß dieser Zug nicht ankommt? Gehetzt blickte er sich um, suchte in diesem Nebel des Undeutbaren nach etwas Greifbarem, nach Orientierungsmalen, an denen er seine Erfahrungen festmachen konnte.
Von denen, die mit ihm fuhren, würde er keine Hilfe bekommen. Er begann zu zweifeln, ob sie seinen Wunsch nach Beistand überhaupt verstehen würden.
Die Notbremse! Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Mit einem Schritt war er an der Tür, suchte nach dem roten Griff. Gehetzt blickte er sich um, seine Augen wanderten über Türen, Fenster, Zischenwände.
Keine Notbremse.
Er stolperte durch den Wagen, von einer Tür zur nächsten, mit flatterndem Atem, prüfte jeden Millimeter des Wagens, zerrte verzweifelt an den Türgriffen des mit Höchstgeschwindigkeit dahinfahrenden Zuges.
Gab es nicht einen kleinen Hammer, der in jedem Abteil neben der Notbremse befestigt war, um bei Gefahr die Fenster aufschlagen zu können? Wo war er? Wieder flog sein Blick durch den Wagen. Auch diesen Gegenstand nicht vorzufinden, bestätigte ihn in der abgrundtiefen Verzweiflung eines vorausgeahnten Unglücks. Er fühlte, wie sich tief in seinem Inneren langsam der Schrei des in die Enge getriebenen Tieres verdichtete, seinen Weg durch die Bewußtseinsstufen fand, unaufhaltam, um endlich hervorzubrechen, hilfesuchend, besitzergreifend.
Keuchend, kreischend, mit tränenblinden Augen trommelte er auf eine der Fensterscheiben ein. Die Kraft reichte nicht aus, um dem Glas etwas anzuhaben; die Handkanten begannen, sich taub anzufühlen. Er drehte sich um, den Rücken an das Fenster gestemmt, winkelte den Arm an, rammte den Ellenbogen dagegen, wieder, immer wieder. Ein leises Knacken war zu hören; wilde Hoffnung kam in ihm auf. Er verstärkte seine Anstrengungen, sein Ellenbogen gab keine Gefühlsimpulse mehr ab. Ein weiteres Knacken - im Fenster zeigte sich der erste Sprung.
Das Drücken in der Brust kehrte zurück, veranlaßte ihn, in der Bewegung zu erstarren, sich auf den nächsten Sitz fallen zu lassen.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Langsam glitt er vom Sitz auf den Boden, vor seine Augen schob sich ein grauer, flimmernder Vorhang.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Durch die Agonie der Erstickungsangst fühlte er, wie der Zug behutsam begann, abzubremsen.
Das Drücken ging vorüber, die Sicht kehrte zurück. Die Fahrgäste standen vor den Türen, die Blicke starr geradeaus. Durch die Fenster drang das regelmäßige Blinken vorbeigleitender Leuchtstoffbänder. Das Blinken verlangsamte sich, wurde von gleichmäßigem Licht abgelöst. Der Zug kam mit einem leichten Ruck zum Stehen, die Türen öffneten sich.
Während er sich aufrappelte, verließen die Fahrgäste den Zug. Auf noch unsicheren Beinen, geschwächt vom gerade übestandenen Anfall, folgte er ihnen. Der Bahnsteig kam ihm nicht bekannt vor. Er suchte nach Beschriftungen, konnte keine finden. Hilflos sah er sich um, suchte die Rolltreppe, konnte keine finden. Der Bahnsteig leerte sich rasch; die Angekommenen strebten auf den einzigen vorhandenen Ausgang zu. Er sah keine Alternative, als ihnen zu folgen, hinter sich das Geräusch des abfahrenden Zuges.
Er trat durch den Ausgang, fand sich in einer ausgedehnten Halle wieder, die Wände wie die des Bahnsteigs verkleidet mit graueloxierten Dekorplatten, U-Bahn-Ästhetik aus der Empfindungswelt seelisch Verkrüppelter. Von der Decke das kalte Licht der Leuchtstoffröhren, hinter weißen Rasterelementen erzeugt. Wieder suchte er nach Hinweisschildern, Wegweisern, Namen. Wieder war nichts dergleichen zu sehen. Nur nackte, kahle Wände und weißes, kaltes Flutlicht.
Und dann erst nahm er die Menschen wahr. Sie kamen von überallher, gingen überallhin, Hunderte; die Halle war erfüllt von ihnen. Sie strömten aneinander vorbei, ohne sich zu berühren, ohne sich zu bemerken, schweigend, die Blicke starr geradeaus. Die meisten gingen alleine, manche in Gruppen zu zweit oder dritt, zuweilen auch mehr. Was ihn bereits im Zug mit Unbehagen erfüllt hatte, fand er nun in hundertfachem Ausmaß vor: Menschen, schweigend und teilnahmslos einem unbekannten Ziel entgegenstrebend.
Unvermittelt wurde ihm bewußt, was ihn bereits in der U-Bahn über alle anderen Merkwürdigkeiten hinweg irritiert hatte, hier fand er es wieder, unheimlich vervielfältigt: leere Hände. Keiner der Vorbeiwandernden hatte irgendetwas bei sich; keine Tasche war zu sehen, keine Einkaufstüte, kein Koffer. Kein heimkehrender Arbeiter trug seine Aktenmappe, kein junger Sportler seinen Trainigsbeutel, kein kleines Mädchen drückte seine Puppe an sich, kein Junge war in sein Comicheftchen vertieft. Niemand benötigte etwas - nichts, außer sich selbst.
Automatisch setzte er sich in Bewegung, quer durch die Halle, auf der Suche nach dem Ausgang, den Treppen. Welcher Bahnhof war das? Ihm kam zu Bewußtsein, daß er auf dieser Strecke noch nie bis zur Endstation gefahren war. Der Anblick einer U-Bahnstation ohne Hinweisschilder, Wegweiser und Werbetafeln erfüllte ihn mit unterschwelligem Grauen. Gehetzt blickte er um sich, während er vorwärtsstolperte. Trotzdem stieß er mit niemandem zusammen; jeder Vorübergehende machte frühzeitig Platz.
In jeder der vier Wände entdeckte er einen Durchgang, genau in der Mitte. Nach kurzem Zögern ging er auf den rechten zu, trat hindurch. Die Halle, die dahinter lag, glich der, die er eben verlassen hatte, bis in jede Kleinigkeit. Erschreckt blieb er stehen. Hatte bis jetzt eine Art von Entdeckertrieb seine Gefühle im Zaum gehalten, kamen sie nun langsam wieder zum Vorschein. Wo war er? Mit welchem Recht erlaubten sich die Verkehrsbetriebe, Fahrgäste in unbeschrifteten Bahnhöfen sich selbst zu überlassen?
Er machte auf dem Absatz kehrt, ging in die vorige Halle zurück. Jetzt war er wütend, hatte nicht vor, sich zum Narren halten zu lassen. Die nächste U-Bahn würde ihn zu einer Station bringen, die bereits fertiggestellt, beschildert und benutzbar war - auch für Menschen, die sich darin nicht bereits auskannten! Er wandte sich nach links, ging auf den Ausgang zu, durch den er vom Zug aus gekommen war. Verständnislos betrachtete er die Menschen, die vor ihm, neben ihm, hinter ihm vorbeigingen. Alle hatten feste Ziele, keiner blieb stehen, keiner wartete auf jemanden oder etwas. Niemand saß, was die Atmosphäre der Rastlosigkeit noch steigerte; als er den Raum genauer betrachtete, entdeckte er, daß keine Sitzgelegenheiten vorhanden waren.
Er trat durch den Durchgang zum Bahnsteig, oder zumindest durch den, den er dafür hielt. Als er dahinter wieder eine Halle der selben Art vorfand, erstarrte er.
Das Drücken in der Brust setzte wieder ein.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Nach einer kurzen Pause wieder:
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Keuchend lehnte er sich an die kühle Wand, Panik kam in ihm auf. Obwohl das Druckgefühl keinen realen Schmerz verursachte, genügte es, um Todesangst entstehen zu lassen.
Nachdem er wieder frei atmen konnte, blickte er sich um. Die Passanten in seiner Nähe sahen mit der ihm wohlbekannten Verwunderung herüber; keiner blieb stehen. Bereits nach wenigen Schritten schienen sie ihn wieder vergessen zu haben, setzten ihren Weg fort, den Blick starr geradeaus.
Wo war der Bahnsteig? Er war sicher, vorhin diesen Durchgang benutzt zu haben - oder doch nicht? Er ging zurück in die vorige Halle, wandte sich dem Durchgang in der linken Wand zu. Dahinter befand sich wieder ein Raum derselben Art.
Den Impuls, seine Wut laut herauszuschreien, unterdrückte er. In welches Labyrinth war er hier geraten? Die Hände krampfhaft zu Fäusten geballt, mit zusammengekniffenen Lippen, steuerte er ziellos durch den Raum, näherte sich seiner Mitte. Hier blieb er stehen, begann langsam, sich um sich selbst zu drehen. Menschen strichen an seinem Blick vorbei, Wände glitten vorüber, Durchgänge, die den Blick auf weitere Menschen freigaben, und dazwischen manchmal auf weitere Wände, weitere Durchgänge. Er beschleunigte die Drehung; die Menschen verwischten vor seinen Augen, ebenso die Wände mit ihren Durchgängen. Die Leuchtstoffbänder zeichneten konzentrische, weiße Kreise an die Decke; darin dünne schwarze Linien, von den vorbeihuschenden Rasterblenden hineingraviert. Er beschleunigte weiter. Noch erkennbare Details verschwammen nun völlig, senkten sich wie ein schützender Vorhang zwischen ihn und eine Umwelt, die ihm mehr und mehr entglitt. Laute drängten aus seinem Mund, wie von der entstandenen Fliehkraft weggeschleudert. Winselnd, taumelnd, wirbelte er herum, mit rudernden Armen, mühsam die Balance haltend. Was ihn schließlich zu Fall brachte, war das wieder einsetzende Drücken in der Brust. Vor Hilflosigkeit heulend wälzte er sich am Boden.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Die Menschen, die die Halle durchquerten, zogen weite Bögen um ihn, nur wenige blickten in seine Richtung. Langsam versiegte die Kraft, die seinen Nervenzusammenbruch speiste, gleichzeitig mit dem Druckgefühl, das sich wie ein ausklingender Gong langsam in den Hintergrund seiner Seele zurückzog.
Mühsam rappelte er sich wieder hoch, wischte mit einem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. Seine Gedanken klärten sich. Daß es so nicht weitergehen konnte, war ihm bewußt. Er mußte seine Vernunft anwenden, zumindest das, was davon noch übrig war. Irgendeine Logik mußte in der Anlage dieses Bahnhofs stecken, steckte in jedem Bauwerk. Wenn er sich nur dazu bringen konnte, einigermaßen kühl und zweckmäßig über seine Situation nachzudenken, würde er sicher...
Er erkannte sofort, daß an der älteren Frau etwas anders war als an den übrigen Personen in der Halle.
Sie starrte ihn an.
Ihn.
Ununterbrochen.
Ging auf ihn zu.
Ein heißer Schauer durchfuhr ihn. Zum ersten Mal, seit er die U-Bahn betreten hatte, nahm ihn jemand bewußt wahr. Das Gefühl, in Watte gepackt zu sein, fiel schlagartig von ihm ab. Die Augen der Frau strahlten Angst aus, panisch, doch im Gegensatz zu dem unüberwindlichen Nichtbewußtsein der anderen war ihr Blick wie eine Offenbarung. Unmittelbar vor ihm blieb sie stehen, streckte einen Arm aus, deutete auf ihn, endlich! Er sprach zu ihr. (Ob sie sich auch verirrt hätte, ob es nicht ungheuerlich sei, einen so großen U-Bahnhof völlig unbeschildert zu lassen, ob sie sich hier auskenne, ob sie ihm sagen könne, wo der Ausgang sei?)
Erstarrt lauschte die ältere Frau. Dann begannen ihre Lippen zu zittern, unmerklich zuerst, dann bebend. Ihr Versuch, zu antworten, wurde von dem Weinkrampf, der sie ohne Vorwarnung überfiel, zunichte gemacht. Hilflos stand er ihr gegenüber, beobachtete das Zucken ihres nach vorne gekrümmten Körpers, lauschte der Melodie ihrer Angst. War er schuld an diesem Ausbruch? Instinktiv hob er die Arme, wollte sie beruhigend auf die Schultern der Frau legen. Entsetzt wich sie zurück, rannte kreischend davon. Nach wenigen Sekunden war sie aus seinem
Gesichtskreis verschwunden, in der vorbeieilenden Menge untergetaucht.
Leere breitete sich in seinem Gehirn aus. Jeder Versuch, einen konkreten Gedanken zu fassen, wurde mit einem Zurückweichen in seinem Inneren beantwortet, gleich dem Schrecken, den er bei der älteren Frau erzeugt hatte. In einem der hintesten Winkel seines Bewußtseins hatte die Erinnerung an eine Aufgabe überlebt, die er zu lösen hatte. Eine Aufgabe, die wichtig war, lebenswichtig. Etwas das er tun mußte, um ... um was?
Er erinnerte sich. Der Ausgang. Er mußte ihn finden! Er wußte noch, daß er versuchen wollte, seine Vernunft anzuwenden. Wieder begann er, um sich selbst zu kreisen, langsam diesmal, planvoll. Gab es nicht irgendetwas, das markante Eigenschaften besaß, sich vom Rest dieser unendlichen Einheitlichkeit unterschied?
Es benötigte ungefähr zehn Umdrehungen, bis er bemerkte, daß eine der vier Hallen hinter den Durchgängen heller erschien als die anderen.
Illusion? Selbsttäuschung?
Mit geschlossenen Augen drehte er sich einige Male, suchte dann wieder die vier Durchgänge ab. Diese eine Halle - sie war tatsächlich etwas heller. Zögernd verließ er seinen Standort in der Mitte.
Die geringfügig größere Lichtmenge war der einzige Unterschied, den er feststellen konnte, als er die Halle betrat. Wieder ging er auf die Mitte zu, um einen neuen Überblick zu erhalten. Graue Wände, kaltes Leuchtstofflicht, wie gewohnt. Menschen, die die Halle durchquerten, planlos und zielstrebig zugleich; schweigende Schatten, die aus den vier Durchgängen auftauchten, hinter ihnen verschwanden.
Wieder schien eine der vier angrenzenden Hallen heller zu sein als die restlichen drei. Sie lag gegenüber derjenigen, aus der er gekommen war. Sein Herz begann, rascher zu schlagen. War das die Lösung, der rote Faden? Rasch ging er auf die neue Halle zu, in ihre Mitte. Ein prüfender Blick offenbarte eine weitere Halle, deren Beleuchtung heller zu sein schien als die der anderen. Diesmal schloß sie sich rechts an.
Die Fährte der helleren Hallen blieb bestehen, während er mitzählte. Nachdem er sich auf diese Weise den Weg durch vierunddreißig Hallen gesucht hatte, begannen wieder Zweifel an ihm zu nagen. Der Weg war völlig willkürlich verlaufen; manchmal lag die hellere Halle gegenüber, manchmal schloß sie rechts an, manchmal links. Er hatte das Gefühl, sich bereits kilometerweit vorangetastet zu haben.
Das Licht war mittlerweile blendend hell. Nur noch mit zusammengekniffenen Lidern konnte er sich voranbewegen. Erschöpft blieb er stehen, beschattete mit einer Hand seine Augen gegen das gleißende Strahlen der Leuchtstoffröhren, betrachtete seine Umgebung. Die Halle unterschied sich in nichts von den hinter ihm liegenden, und doch - es gab eine unübersehbare Abweichung. In den ersten Hallen waren die Menschen gleichmäßig verteilt von beliebigen Ausgangspunkten zu beliebigen Zielen geeilt, homogen wie die Moleküle in erhitztem Gas. Nun strebte die Mehrheit von ihnen zusammen mit ihm dem jeweils helleren Durchgang zu, schweigend wie zuvor, unberührbar, aber zweifellos mit einem neuen, gemeinsamen Ziel. Eine Tatsache, die ihn gleichzeitig mit Hoffnung und namenlosen Entsetzen erfüllte.
Eilig quetschte er sich zwischen den anderen durch die Öffnung zur helleren Halle, wandte sich nach einem kurzen, nun schon geübten Blick wieder der nächsten, helleren zu, und wieder der nächsten, und wieder, und wieder ...
Die Helligkeit war zu einem unerträglichen, grellweißen Spiegel geworden, der Lichtkaskaden gegen ihn abschoß. Durch die zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen und mit den Händen abgeschirmten Augen konnte er schemenhaft die Umgebung identifizieren, die anderen beobachten, wie sie um ihn herum auf das nun offensichtlich nahe Ziel zustrebten, schweigend wie immer, die Arme kraftlos herunterhängend, die Augen weit geöffnet, die Blicke voll strahlender Hoffnung.
Kurz vor dem Durchgang zu einer weiteren, noch helleren Halle setzte das Drücken in der Brust wieder ein, und diesmal kam es mit brachialer Gewalt über ihn. Mit einem Aufschrei schlug er auf dem Boden auf, fühlte monströse Druckwellen durch seine Brust wogen.
- PRESSEN -- LOSLASSEN -
- PRESSEN -- LOSLASSEN -
- PRESSEN -- LOSLASSEN -
- PRESSEN -- LOSLASSEN -
Heulend rollte er sich zusammen, die Arme um den Kopf geschlungen, die Beine angezogen; ein verzweifelter Rückzugsversuch in embryonale Unantastbarkeit. Explosionen aus Licht und Angst duchzuckten seinen Körper. Dann war das Druckgefühl vorbei, schlagartig. Zitternd, mit zusammengekniffenen Augen, hob er mühsam den Kopf, stierte zwischen den Beinen der Vorbeihastenden hindurch. Undeutlich erblickte er hinter dem Durchgang, vor dem er zusammengebrochen war, an der gegenüberliegenden Wand statt des obligatorischen Durchgangs die langsam nach oben fahrende Rolltreppe.
Der Anblick löste schlagartig die in den vergangenen Stunden (oder waren es Tage?) aufgestaute Spannung. Er hörte sich plappern; sinnloses Zeug, Fragmente eines ehemals einheitlichen Geistes, vom Unterbewußtsein an die Oberfläche gespült. Er versuchte aufzustehen, doch seine Beine versagten ihren Dienst. Auf allen Vieren kroch er vorwärts, zur Rolltreppe, fast blind durch die überwältigende Helligkeit, den Blick eingeengt durch einen wanderenden Wald aus Menschenbeinen.
Die Menge wandte sich geschlossen dem linken Durchgang zu; mit einem Mal war er alleine auf seinem Weg; hinter sich das hastige Getrappel hunderter Schuhe; vor sich die Rolltreppe, gleichtönig summend. Immer noch brachen unzusammenhängende Satzfetzen aus ihm hervor, Rufe, Stöhnen, Pfiffe, Liedzeilen, Räuspern, Schimpfwörter, Tierstimmen, Rülpsen, Kichern. Inzwischen hatte er den unteren Absatz der Rolltreppe erreicht, zog sich auf die aus dem Boden auftauchenden Stufen.
Während ihn die Treppe nach oben trug, kehrten seine Kräfte langsam zurück. Das gleißende Licht ließ nach, nahm schließlich wieder normale Stärke an. Am mitwandernden Handlauf zog er sich mühsam hoch, taumelnd zuerst, dann zunehmend sicherer.
Er erreichte das obere Ende der Treppe, fand sich in der Zugangsebene eines U-Bahnhofs wieder, der ihm bekannt vorkam. Er sah Verkaufskioske, Werbeplakate, Hinweisschilder, Menschen - ein wiedergewonnenes Universum. Doch er konnte nicht bleiben, nicht jetzt. Er mußte weiter, wurde erwartet. Er durchquerte das Untergeschoß, betrat die nächste Rolltreppe, die ihn zur Straße trug. Der vor dem U-Bahnausgang wartende Bus brachte ihm die Erinnerung an die Umgebung zurück. Er war wieder am Ausgangspunkt. Eine Menschentraube umstand die Vorderfront des Fahrzeugs, blickte auf etwas, das er von hinten nicht sehen konnte. War das etwa noch der Bus, der ihn fast überfahren hatte?
Unerwartet leicht kam er zwischen der dicht gedrängten Menschenmenge hindurch, sah den Sanitäter, der vor dem Bus neben einem auf dem Asphalt liegenden Mann kniete. Das grelle Licht aus den unterirdischen Hallen zeigte Nachwirkungen, irgendwie konnte er das Gesicht des Mannes nicht richtig erkennen; es wirkte seltsam verschwommen.
Nun, er wußte, was er zu tun hatte. Wußte, daß es nur diesen einen Weg gab. Daß er sich auf den Mann legen mußte. Jetzt gleich. Der Sanitäter stützte die Hände auf seine Brust, verlagerte das Gewicht.
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
- pressen -- loslassen -
Dann kamen die Schmerzen.
Bilder des
Münchner Künstlers
Werner Kroener
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