Im Zeitalter der Computer-Gene - Titelbild wird geladen ...     Übrigens: Der nächste AVATAR erscheint am 1. September 1997 !


Diejenigen, die sich von meinem Artikel "Realität? Defini

tionssache." in der letzten Ausgabe des AVATAR mit Grause

n abwandten, sollten nicht weiterlesen. Auch der Umgang m

it wissenschaftlichen Studien des MIT (Massachusetts Inst

itute of Technology) ist für empfindsame Gemüter nur im B

eisein stabiler, psychologischer Betreuer anzuraten. Zu g

roß könnte der Schock sein, den die enthaltenen Zukunftsv

isionen bei den Betroffenen auslösen. In meinem Artikel b

eschwor ich die Vision einer Gesellschaft, die der materi

ellen Ebene die virtuelle Existenz als zweite gleichberec

htigte Daseinsform beiordnet. Verglichen mit den Ausblick

en des MIT-Theoretikers William Mitchell und anderer Vord

enker wirkt dieses von den meisten als überspitzte Wahnsi

nnsvision bewertete Modell wie das Gartenzwerg-Utopia ein

es niederbayrischen Dorfstammtisches.

Konnte ich mir lediglich den Zugewinn eines idealisierten

, da virtuellen Universums vorstellen, wischt Mitchell di

e körperliche Existenz  mit schwungvoller Bewegung gleich

ganz vom Tisch.  Er und einige andere Theoretiker unseres

Jahrhunderts sehen zwei Evolutionsstränge, die parallel l

aufen. (Sagte ich es nicht?) Der Unterschied zwischen bei

den Strängen: Während der eine bereits der Vollendung sei

nes evolutionären Lebenslaufs entgegendriftet, beginnt de

r andere gerade erst zu sprießen und zu gedeihen. Er brin

gt uns - laut Hawkins - das virtuelle Gen,
Mem genannt. D

ieses Memory-Fragment ist der prinzipielle Baustein des k

ollektiven Gedächtnisses in der Informationsgesellschaft.

Folgerichtig findet die Genesis ihre geradlinige Fortsetz

ung in der
Memesis .


Dieses griffige Bild bedeutet nicht mehr und nicht wenige

r als den Übergang  unserer körperlichen Existenz in eine

datenbasierte. Unsere Zukunft setzt sich demnach in einem

komplexen, kybernetischen Universum fort. Die hier existi

erenden
Agenten (früher Menschen genannt) sind durch neue

Informationspotentiale so anpassungsfähig und so intellig

ent geworden, daß sie in der Lage sind,  die herrschenden

Systemregeln selbst zu ändern.


Die
elektrosomatische Konstruktion, die der frühere Mensc

h nun darstellt, basiert in ihrer Übergangsphase auf ein

em nur noch rudimentär existierenden Körper. Sinnesorgane

und Gliedmaßen haben ihre Sinnfälligkeit verloren und sic

h zurückgebildet. Der restliche Torso ist lediglich Anten

ne für den Informationstransfer. Doch auch dieses Stadium

dauert nur eine begrenzte Zeit an. In seiner Endausgestal

tung besteht der Organismus aus einem
drahtlosen Körperne

tz
, die Matrix für das Zirkulieren unseres Datenlebens, i

ntegriert in ein weltweites (oder auch intergalaktisches)

Netzsystem. Als Agenten haben wir keinen Standort im herk

ömmlichen Sinn.  Wir sind überall und nirgends, körperlos

und zeitunabhängig. Göttlich?


Die neue Wissenschaft trägt in Teilen diesen Modellen Rec

hnung. Der Fokus verlagert sich - langsam - von der Beoba

chtung der althergebrachten Naturgesetze und der Untersuc

hung der stofflichen Beschaffenheit von Materie hin zur A

nalyse der
funktionellen Struktur der Datenmoleküle,  der

Bausteine für die Schaltkreise des globalen Netzwerks.


Abgehoben Modelle wie dieses entstehen nicht im luftleere

n Raum. Die Lehre vom virtuellen Leben basiert auf anerka

nnten Theorien, die fast ein halbes Jahrhundert alt sind.

Den ersten Rammstoß gegen das bis dahin unwiderlegte Theo

rem des göttlichen Schöpfers führte ein frühentwickeltes,

amerikanisches Genie. Norbert Wiener, der mit drei Jahren

bereits schreiben und lesen konnte, sein Mathematikstudiu

m als 14-jähriger abschloß und mit 18 Jahren seinen Dokto

r in Philosophie machte, fand konkrete mathematische Besc

hreibungen für die willkürlichen Veränderungen physikalis

cher Vorgänge. Schlußfolgerung: Auch die Evolution ist ei

ne Abfolge mathematisch logischer Schritte. Eine neue Leh

re war geboren. Ausgehend vom grieschischen Wort für ausg

efeilte Seemanskunst nannte Wiener sie
Kybernetik.


Bereits in seiner ersten, 1948 erschienenen Schrift malte

Wiener das Bild des kybernetischen Organismus. Sience-Fic

tion-Autoren übernahmen das Modell: Der
Cyborg war gebore

n. Am Ende seines Lebens postulierte der Prophet des digi

talen Zeitalters das Erbe der Kybernetik als Nachfolger d

er Religion - und damit auch als Nachfolger der herkömmli

chen Naturwissenschaften.


William Mitchell in seiner Funktion als MIT-Wissenschaftl

er hat einen Ruf zu wahren. Therorien wie die des drahtlo

sen Körpernetzes werden in etablierten Wissenschaftskreis

en gewöhnlich als futuristisches Dilletantengewäsch versp

ottet. Sie zu unterstützen ist Gift für eine seriöse wiss

enschaftliche Karriere. Wie geht der international bekann

te, profilierte Wissenschaftler damit um?  Er erinnert an

Baron Haussmann, der durch das mittelalterliche Labyrinth

Pariser Gassen  breite Boulevards schlagen ließ und damit

den Prototyp heutiger Großstädte schuf. Darin sieht Mitch

ell die Analogie zu den ersten Datenschneisen der aktuell

en, globalen Vernetzung. Sie, die Datenboulevards, führte

n direkt in die
City of Bits, jener geographisch nicht de

finierbaren Weltmetropole, die uns den Weg in die kommend

en binären Jahrhunderte ebnet.


Über zu phantastisch anmutende Theorien und Visionen in ü

berlegener Rationalistenpose erhaben den Kopf zu schüttel

n,  ist ein verlockender und - vor allem - sehr einfacher

Weg, geistige Kompetenz zu simulieren. Sich darauf einzul

assen, ist schon erheblich schwieriger. Ein geistiges Erd

beben. Und was tut man bei Erdbeben? Richtig: Das Haus so

schnell wie möglich verlassen. Die Sache hat einen Haken:

Auch Straßen sind über Hohlräume gebaut.

 

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