Diejenigen, die sich von meinem Artikel
"Realität? Defini
tionssache." in der letzten Ausgabe des AVATAR mit Grause
n abwandten, sollten nicht weiterlesen. Auch der Umgang m
it wissenschaftlichen Studien des MIT (Massachusetts Inst
itute of Technology) ist für empfindsame Gemüter nur im B
eisein stabiler, psychologischer Betreuer anzuraten. Zu g
roß könnte der Schock sein, den die enthaltenen Zukunftsv
isionen bei den Betroffenen auslösen. In meinem Artikel b
eschwor ich die Vision einer Gesellschaft, die der materi
ellen Ebene die virtuelle Existenz als zweite gleichberec
htigte Daseinsform beiordnet. Verglichen mit den Ausblick
en des MIT-Theoretikers William Mitchell und anderer Vord
enker wirkt dieses von den meisten als überspitzte Wahnsi
nnsvision bewertete Modell wie das Gartenzwerg-Utopia ein
es niederbayrischen Dorfstammtisches.
Konnte
ich mir lediglich den Zugewinn eines idealisierten
, da virtuellen Universums vorstellen, wischt Mitchell di
e körperliche Existenz mit schwungvoller Bewegung gleich
ganz vom Tisch. Er und einige andere Theoretiker unseres
Jahrhunderts sehen zwei Evolutionsstränge, die parallel l
aufen. (Sagte ich es nicht?) Der Unterschied zwischen bei
den Strängen: Während der eine bereits der Vollendung sei
nes evolutionären Lebenslaufs entgegendriftet, beginnt de
r andere gerade erst zu sprießen und zu gedeihen. Er brin
gt uns - laut Hawkins - das virtuelle Gen, Mem
genannt. D
ieses Memory-Fragment ist der prinzipielle Baustein des k
ollektiven Gedächtnisses in der Informationsgesellschaft.
Folgerichtig findet die Genesis ihre geradlinige Fortsetz
ung in der Memesis
.
Dieses griffige Bild bedeutet nicht mehr und nicht wenige
r als den Übergang unserer körperlichen Existenz in eine
datenbasierte. Unsere Zukunft setzt sich demnach in einem
komplexen, kybernetischen Universum fort. Die hier existi
erenden Agenten
(früher Menschen genannt) sind durch neue
Informationspotentiale so anpassungsfähig und so intellig
ent geworden, daß sie in der Lage sind, die herrschenden
Systemregeln selbst zu ändern.
Die elektrosomatische
Konstruktion, die der frühere Mensc
h nun darstellt, basiert in ihrer Übergangsphase auf ein
em nur noch rudimentär existierenden Körper. Sinnesorgane
und Gliedmaßen haben ihre Sinnfälligkeit verloren und sic
h zurückgebildet. Der restliche Torso ist lediglich Anten
ne für den Informationstransfer. Doch auch dieses Stadium
dauert nur eine begrenzte Zeit an. In seiner Endausgestal
tung besteht der Organismus aus einem drahtlosen
Körperne
tz, die Matrix für das Zirkulieren
unseres Datenlebens, i
ntegriert in ein weltweites (oder auch intergalaktisches)
Netzsystem. Als Agenten haben wir keinen Standort im herk
ömmlichen Sinn. Wir sind überall und nirgends, körperlos
und zeitunabhängig. Göttlich?
Die neue Wissenschaft trägt in Teilen diesen Modellen Rec
hnung. Der Fokus verlagert sich - langsam - von der Beoba
chtung der althergebrachten Naturgesetze und der Untersuc
hung der stofflichen Beschaffenheit von Materie hin zur A
nalyse der funktionellen
Struktur der Datenmoleküle, der
Bausteine für die Schaltkreise des globalen Netzwerks.
Abgehoben Modelle wie dieses entstehen nicht im luftleere
n Raum. Die Lehre vom virtuellen Leben basiert auf anerka
nnten Theorien, die fast ein halbes Jahrhundert alt sind.
Den ersten Rammstoß gegen das bis dahin unwiderlegte Theo
rem des göttlichen Schöpfers führte ein frühentwickeltes,
amerikanisches Genie. Norbert Wiener, der mit drei Jahren
bereits schreiben und lesen konnte, sein Mathematikstudiu
m als 14-jähriger abschloß und mit 18 Jahren seinen Dokto
r in Philosophie machte, fand konkrete mathematische Besc
hreibungen für die willkürlichen Veränderungen physikalis
cher Vorgänge. Schlußfolgerung: Auch die Evolution ist ei
ne Abfolge mathematisch logischer Schritte. Eine neue Leh
re war geboren. Ausgehend vom grieschischen Wort für ausg
efeilte Seemanskunst nannte Wiener sie Kybernetik.
Bereits in seiner ersten, 1948 erschienenen Schrift malte
Wiener das Bild des kybernetischen Organismus. Sience-Fic
tion-Autoren übernahmen das Modell: Der Cyborg
war gebore
n. Am Ende seines Lebens postulierte der Prophet des digi
talen Zeitalters das Erbe der Kybernetik als Nachfolger d
er Religion - und damit auch als Nachfolger der herkömmli
chen Naturwissenschaften.
William Mitchell in seiner Funktion als MIT-Wissenschaftl
er hat einen Ruf zu wahren. Therorien wie die des drahtlo
sen Körpernetzes werden in etablierten Wissenschaftskreis
en gewöhnlich als futuristisches Dilletantengewäsch versp
ottet. Sie zu unterstützen ist Gift für eine seriöse wiss
enschaftliche Karriere. Wie geht der international bekann
te, profilierte Wissenschaftler damit um? Er erinnert an
Baron Haussmann, der durch das mittelalterliche Labyrinth
Pariser Gassen breite Boulevards schlagen ließ und damit
den Prototyp heutiger Großstädte schuf. Darin sieht Mitch
ell die Analogie zu den ersten Datenschneisen der aktuell
en, globalen Vernetzung. Sie, die Datenboulevards, führte
n direkt in die City of
Bits, jener geographisch nicht de
finierbaren Weltmetropole, die uns den Weg in die kommend
en binären Jahrhunderte ebnet.
Über zu phantastisch anmutende Theorien und Visionen in ü
berlegener Rationalistenpose erhaben den Kopf zu schüttel
n, ist ein verlockender und - vor allem - sehr einfacher
Weg, geistige Kompetenz zu simulieren. Sich darauf einzul
assen, ist schon erheblich schwieriger. Ein geistiges Erd
beben. Und was tut man bei Erdbeben? Richtig: Das Haus so
schnell wie möglich verlassen. Die Sache hat einen Haken:
Auch Straßen sind über Hohlräume gebaut.
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