Wie virtuell ist eigentlich die Realität?
ÜZTÜR Liebe Landsleute, ich begrüße Sie bei unserem Seminar "Selbstschutz durch Undeutsch". Die vorherrschende Grundhaltung des deutschen Normalmenschen gibt ja leider wieder einmal zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß, so daß auch ungewöhnliche Mittel angemessen erscheinen. Lassen Sie uns gleich in medias res gehen. Beim letzten Mal hatten wir wichtige und häufige Redewendungen aus dem Berufsleben durchgenommen; heute wollen wir uns mit allgemeinen Einkaufssituationen beschäftigen. Herr Jamal, bitte übersetzen Sie: "Könnte ich bitte diesen roten Pullover ansehen?" JAMAL
stockend ÜZTÜR Na ja, recht ordentlich, Herr Jamal. Besser noch wäre "rot' Pullover", das wirkt fremdländischer. - Jetzt bitte, Herr Sedek, was heißt: "Das Bier ist für den anderen Herrn, ich hatte einen Kaffee bestellt!" SEDEK
fließend ÜZTÜR
anerkennend KOYUNCU Blödsinn! ÜZTÜR Bitte?? KOYUNCU
Blödsinn, hab' ich gesagt. Das ist alles kompletter Blödsinn. Wie soll uns dieses
schwachsinnige Babygebrabble vor der Ausländerhetze schützen? - Blödsinn, sage
ich! ÜZTÜR
laut, um die Stimmen zu übertönen KOYUNCU
wegwerfend ÜZTÜR Herr Koyuncu! Sie sind zwar das erste Mal bei uns, aber immerhin ... Am meisten fürchtet der Normaldeutsche einen derart integrierten Ausländer, daß er ihn als solchen möglicherweise gar nicht mehr erkennen kann! KOYUNCU Blödsinn. ÜZTÜR
verärgert KOYUNCU Warum wohl! Weil Sie glauben, wir würden sie sonst nicht verstehen! ÜZTÜR
Falsch, Herr Koyuncu, ganz falsch! Wenn dem so wäre, wie ist es dann möglich,
daß wir immer wieder mit Sätzen konfrontiert werden, wie sie unser geschätzter
Herr Jamal beim letzten Mal vorgetragen hat? Einen Moment, ich lese vor ... JAMAL
Mein Freund hat erzählt, der Bankbeamte hätte sogar versucht, mit türkischem Akzent
zu sprechen! ÜZTÜR Sehen Sie, Herr Koyuncu? Glauben sie wirklich, der Mann hat versucht, sich leichter verständlich auszudrücken? KOYUNCU Na ja ... ÜZTÜR Her Koyuncu, es hat keinen Sinn, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen. Das "Babygebrabble" ist eine hochkarätige Integrationsbarriere! KOYUNCU Das ist ja paranoid! ÜZTÜR Oh nein, Herr Koyuncu! In unserem Seminar "Richtig gekleidet - gut getarnt" vom letzten Oktober ist dieses Thema ausführlich zur Sprache gekommen. Sie hätten daran teilnehmen sollen; es hätte sie sicher interessiert! Mit nichts kann ein Ausländer einen aufrechten Deutschen mehr beunruhigen als mit fortschreitender Anpassung. Solange er gebrochen deutsch spricht, ist er als Fremdkörper auf beruhigende Weise sofort und mühelos erkennbar. Das ist doch offensichtlich, nicht wahr? KOYUNCU Der gelbe Davidstern im türkischen Gewand, wie? ÜZTÜR Da steckt leider mehr Wahres dahinter als Sie glauben! KOYUNCU
gelangweilt ÜZTÜR Erst, wenn der Ausländer sich der Sprache seines Gastlandes bemächtigt, wenn er sie vielleicht fehlerfrei oder sogar ohne Akzent spricht, könnte er aus seiner Ghettosituation wegtauchen, und zwar ein- für allemal! Um das zu verhindern, wird der Normaldeutsche eben das nicht tun, was zum Lehren einer Sprache das einzig Richtige ist: korrektes Vorsprechen. KOYUNCU Dr. Üztür, wollen Sie damit andeuten, daß Deutsche absichtlich so daherstammeln, nur um uns davon abzuhalten, auch ... aber das ist ja absurd! ÜZTÜR Sie werden sich damit abfinden müssen! Und aus diesem Grund, um nicht das Gefühlskonglomerat aus Angst, Haß und Unwissenheit durch die Zurschaustellung fortgeschrittener Integration noch mehr aufzublähen, sollen Sie in diesem Seminar die richtige Rhetorik für den sprachlichen Umgang mit Ihren deutschen Mitbürgern erlernen. Also, Herr Koyuncu, wenn wir wieder zur Praxis zurückkehren dürften - bitte übersetzen sie: "Ich hätte gerne einen Fotoband über die Schönheiten dieses Landes!" KOYUNCU
widerstrebend ÜZTÜR ... von diese schöne Land!
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