Eine
Ahnung der Zukunft Das
Teatro Olimpico |
Auf
den ersten Blick ist Vicenza eine typische norditalienische Stadt. Der sorgfältig
restaurierte Stadtkern, die alte Bausubstanz, die malerischen Straßenzüge
das alles ist bekannt aus den vielen Besichtigungstouren vergangener Urlaubsreisen.
Und doch Vicenza ist anders als die anderen Städte des venezianischen
Einflußgebietes.
Vielleicht lag es ja an der ungünstigen Tageszeit, zu der ich die Stadt zum ersten Mal kennenlernte. Die Siesta an einem heißen Sommertag weckt seltsame Geister in einer ruhenden Stadt des Südens. Die Hitze flimmert, die Luft scheint sich zu verdicken. Die Zeit hält den Atem an. Nur die kleinen und großen Gruppen verbissen durchhaltender Touristen stemmen sich gegen dickflüssige Ströme bleierner Ruhe. Dieses Mal war ich einer von ihnen - aber die Stadt erzählte mir eine ganz andere Geschichte.
Sollte die Stadt wirklich anders sein als die übrigen venezianischen Metropolen, wäre es kein Wunder. Aus einer Pattsituation der maßgebenden Vicenzianischen Familien des 16. Jahrhunderts, gepaart mit dem unbändigen Willen zu Differenzierung und Abgrenzung, entstand eine seltsame Mischung aus revolutionärem Geist und gegenreformatistischer Nabelschau. In Vincenza entstand - um zum Kernpunkt zu kommen - ein virtuelles Abbild erträumter Idealwelten.
Auf diesem Nährboden gedieh die Accademia Olimpica. Die exklusive Verbindung elitärer Kreise wäre wohl niemals aus dem Dunstkreis der anderen Akademien Vicenzas hervorgetreten, hätte sie nicht zum rechten Zeitpunkt eine Art basisdemokratischer Öffnung betrieben, die auch nichtadeligen Personen den Zugang ermöglichte. Das verschaffte ihr eine jahrzehntelang andauernde Infusion an Wissen, Können, Genialität und Kreativität, die es letztendlich möglich machte, die virtuellen Träume einer individualistischen Kaste steingewordene Wirklichkeit werden zu lassen.
Man kann es getrost einen Glücksfall der Geschichte nennen, daß einer der 21 Gründer der Accademia Andrea Palladio war, jener geniale Baumeister, der das architektonische Gesicht Europas maßgeblich mitgeprägt hat. Als er von der Akademie den Auftrag erhielt, eine Bühnenanlage zur Abhaltung der Feierlichkeiten für Herkules, den Gründer der antiken olympischen Spiele zu errichten, trat das Virtuelle im Gedankengut der Akademie erstmals deutlich zutage. Ein Theater für eine Feier? Und danach?
In Palladio fand die Accademia den idealen Vollstrecker ihrer Vorstellungen. Würde es nicht so überspitzt klingen, müßte man es so ausdrücken: Palladio ist der Erfinder des Cyberspace. Natürlich konnte er ihn nicht digitalisieren und auf einen elektronischen Datenträger übertragen. Also baute er einen aus Holz und Stein.
Auf der Basis seiner archäologischen Studien entwickelte er ein Konzept des wiedergeborenen klassischen Theaters der Antike, dessen Hauptaufgabe es ist, sich selbst zu spielen. Theater um des Theaters willen - das ist Virtualität in Reinkultur.
Vielleicht
ist das Teatro Olimpico das Ergebnis einer Reihe günstiger Zufälle.
Einer davon war - so makaber es klingen mag - der Tod des Baumeisters im Jahr
1580, noch während die Begrenzungsmauern der Anlage errichtet wurden. Zwar
hatte er die Vision des virtuellen Raums zum Leben erweckt, aber es bedurfte eines
Meisters wie Vincenzo Scamozzi, der, aus dem Schatten des übermächtigen
Vorbilds getreten, das Teatro Olimpico von der hinderlichen Vorgabe des klassischen
Vorbilds befreite und modernste Konzeptionen einfließen ließ. Als
Ergebnis wurde auf erweitertem Gelände die Tiefe des Bühnenraums vergrößert
und so die perspektivische Illusion perfektioniert.
Walkthrough
durch ein Monument |
Der Vorraum des Cyberspace heißt im Teatro Olimpico Saal des Antiodemus, gefolgt vom Saal des Odeums. Ein Tribut an den Massentourismus ist die Verlegung des Eingangs zum Theatersaal: Mußte man sich ursprünglich über zwei Treppen zu den oberen Logen hochkämpfen, um von dort aus die Plätze einzunehmen, betritt man den Raum heute über einen schmalen Pfad, der vor der ersten Reihe am Bühnengraben entlangläuft. Dem virtuellen Gehalt der Anlage kommt das allerdings zugute: Von der ersten Sekunde an ist der Blick gefangen von der wandernden Perspektive einer scheinbar 50 Meter in die tiefe gehenden Stadtansicht. Fasziniert vom optischen Effekt und dem dramatischen Pomp des Zuschauerraums läßt man sich - wie von unsichtbaren Ordnern angewiesen - irgendwo auf den im Halbkreis angeordneten, ansteigenden Holzbänken nieder. Um das Teatro Olimpico zu begreifen, muß man hier sitzen. Und schauen.
Erst nach geraumer Zeit fällt dem Besucher auf, was ihn von Anfang an irritiert hat: Tageslicht. Das Theater wird durch Oberlichte mit reichlich Sonnenlicht versorgt, was einen weiterer Beleg für die virtuelle Struktur darstellt. Die Naturbeleuchtung soll neben Tagesvorstellungen problemlose Besichtigungen ermöglichen. Ins selbe Horn stößt die Gestaltung der als künstlicher Himmel angelegten Decke - "gemalte Luft", wie es zu Zeiten des Theaterbaus hieß.
Das Zentrum des antiken Cyberspace bildet das Proszenium, das aus einer langgestreckten, schmalen, rechteckigen Bühnenfläche besteht. Von hier ausgehend saugen drei Öffnungen, die "hospitalia" den Zuschauer in die scheinbare Tiefe einer illusionären Stadt, komplett mit Straßen und festlichen Häusern. Die Illusion der Tiefe in den drei auf die Vorbühne zulaufenden Straßen erreicht Scamozzi durch steiles Ansteigen des Bühnenbodens. Mit nur zwölf Metern realer Tiefe erreicht der Bühnenraum so die verblüffend ausladende Räumlichkeit einer "idealen" Stadt des Rinascimento. Und das ganz ohne Auflösungsverluste pixelbasierter Grafiken.
Die prophetische Virtualität der Anlage wird neben dem künsterlischen und kulturellen Gehalt vor allem durch das soziale Phänomen belegt, die das Teatro Olimpico in seiner Zeit darstellte. Innen und außen sind vertauscht. Eine "offizielle" Außenfront gibt es nicht, nur eine schmucklose, schlichte Mauer. Dafür simuliert das Theater in seinem Inneren die Außenwelt. Diese - die wirkliche Außenwelt - ist niemals ganz ausgeschlossen. Sie ist jederzeit durch das Eindringen von Licht und Geräuschen der nahen Hauptverkehrsstraße präsent.
Es wird behauptet, das Teatro Olimpico inszeniere auch ohne Aufführungen. Das ist der Fall. Wie in jedem funktionierenden Cyberspace gibt es auch hier Avatare. Die Statuen an der Bühnenfront, zeitlich versetzte Vertreter der Akademiemitglieder aus der Gründungszeit, führen im wechselnden Licht der Tageszeiten ein Schauspiel auf, dem sich kein Zuschauer entziehen kann. Man wird gefangen vom Drama der verzweifelten Zurschaustellung einer Gesellschaft, die das kommende Ende einer Epoche verspürt. Die stummen Schreie der Statuen an der Bühnenfront künden von der Angst der Protagonisten, ihr eigenes Ende zu finden und - in Stein mumifiziert - im Strudel der Ewigkeit zu versinken.
Viele Menschen, die das Teatro Olimpico kennen und lieben, vertreten die Ansicht, es sei nebensächlich, hier Aufführungen abzuhalten. Der Spielplan, der sich nur über einige Wochen im Jahr erstreckt, gibt dieser Ansicht recht. Das Teatro Olimpico ist tragische Architektur, sich selbst genug, eigenständig.
Die einzige Zukunft des Teatro Olimpico liegt in seiner Vergangenheit, sagen die Kulturhistoriker. Das mag so sein, oder auch nicht - das Wesentliche und Einzigartige am Phänomen des Theaters liegt in einem Effekt begründet, den sich nur wenige der staunenden Besucher wirklich vergegenwärtigen: Jeder Zuschauer, jeder einzelne, ist Teil der Inszenierung. Das Theater - und wieder muß ein neuzeitlicher Begriff bemüht werden - interagiert mit seinen Besuchern. Um das zu erkennen, müßte man seine Paltz auf der hölzernen Bank verlassen und sich in die Tiefen des Bühnenbilds begeben, um von dort in die Runde zu blicken. Doch das ist - leider - verboten. Hier zeigen sich die Grenzen des körperlichen Cyberspace. So ganz ohne Digitalisierung geht es eben doch nicht.
Nexo of Kystone
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