Hänsel, Gretel
und die Stechpalmen    von Nexo of Kystone

 
 

Vor Erfolgsstories sollte man Respekt haben. Die Entwicklung der Filmindustrie im Vorort einer Stadt an der amerikanischen Westküste von handgekurbelten Stummfilmspektakeln zu einer weltbeherrschenden Mammutindustrie ist zweifellos eine solche Erfolgsstory. Warum kritisieren? Können wir es vielleicht besser? Na also.

Der wirklich Kluge weiß, daß er nichts weiß. Zumindest nicht alles. Und daß es immer irgendwo irgendjemanden gibt, von dem man lernen kann. Wer also Filme macht, sollte sich nicht in pseudointellektuelle, geschmäcklerisch-elitäre Elfenbeinturmhöhen begeben, sondern auf eben diese westliche Küste Nordamerikas blicken; dort kann er lernen, wie es gemacht wird.
Würde jemand behaupten, die Filmindustrie in jenem malerischen Vorort wüßte wohl nichts über ihre Zuschauer, gäbe er sich weltweiter Lächerlichkeit preis. Der hier betriebene Aufwand an Marktforschung und Zielgruppenanalyse dürfte nur noch beim Vertrieb von Waschmitteln und Politikern übertroffen werden. Was sind nun die daraus gewonnenen Einsichten?

Die absolute und unumstößliche Maxime für jedes geplante Filmprojekt muß sein, eine Konzeption zu erstellen, die eine möglichst große Zahl potentieller Zuschauer anspricht - das kann doch nicht so schwer zu begreifen sein! Schließlich wird fast jeder Filmschaffende zumindest die Grundschule besucht haben, womit ihm der Begriff des kleinsten gemeinsamen Nenners aus dem Gebiet des Bruchrechnens noch geläufig sein sollte. Da nun die Erkenntnisse besagter amerikanischer Filmindustrie als absolute Referenz nicht angezweifelt werden können, ist nach eingehendem Studium diesbezüglicher Lichtspiele zweifelsfrei davon auszugehen, daß ein Kino- oder Fernsehstück - will es kommerziell nennenswerte Ergebnisse erzielen - für Menschen mit dem geistigen Entwicklungsstand von höchstens Fünfjährigen angelegt werden muß.

Augenscheinlich kann davon ausgegangen werden, daß der Mensch nur unter Anwendung äußerer Gewalt Denkprozesse einleitet und ansonsten im Dämmerzustand zufriedenen Halb- bis Dreiviertelschwachsinns dahinvegetiert. Da die Filmindustrie den Menschen gewöhnlich während seiner Freizeit antrifft, in der er demgemäß alle eigenständigen geistigen Prozesse eingestellt hat, muß ein Film, den er während dieses komaähnlichen Zustands konsumiert, die erforderlichen Denkvorgänge simulieren und ihm die Inhalte als gut aufbereiteten, weichgekauten und vorverdauten Handlungsbrei über einen geistigen Bypass direkt ins emotionale Zentrum injizieren.

Es ist wirklich nicht zu verstehen, was daran so schwer nachvollziehbar sein soll; die Ausgangslage ist doch zwingend: Inhaltsabläufe müssen einfach strukturiert und mit leicht überschaubaren, aber an Gefühle und Ängste appellierenden Spannungs- und Schockmustern durchsetzt sein. Sollten hin und wieder so komplexe Handlungsbögen unumgänglich werden, daß sie kurzfristig das geistige Potential von - sagen wir - Siebenjährigen erfordern, muß in solchen Szenen eben ein Dialogpartner als Konsumentenvertreter vorhanden sein oder eingebaut werden, dem der Darsteller den Sachverhalt langsam und deutlich erklären kann. Das muß geschickt und unauffällig erfolgen; dem Zuschauer darf natürlich nicht offengelegt werden, daß den Filmschaffenden seine geistige Invalidität längst bekannt ist.

Ansonsten sind nur noch wenige Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Abläufe, die im Interesse eines spektakulären Handlungsfortgangs oder entsprechender Spezialeffekte eingeführt werden müssen, sich aber nicht ausreichend motivieren lassen, können mit dem Textbaustein "Ich/du/ Sie/wir habe/hast/haben keine Wahl!" als zwingende Notwendigkeit im Zuschauerbewußtsein fest etabliert werden. Mangelnde schauspielerische Potenz, die sich bei der Visualisierung von Seelenzuständen oder Gefühlsreaktionen manifestieren könnte, wird mit den Text-Hauptverstärkern "O mein Gott!", "Vertrau' mir!" und "Bitte sei vorsichtig!" sowie dem gegenseitigen Rufen der Vornamen wirkungsvoll überbrückt.

Die folgende Übertragung eines alten Märchenstoffs in das Handlungsgerippe eines abendfüllenden Spielfilms demonstriert die wirkungsvolle Anwendung der beschriebenen Techniken und soll europäischer Filmkultur die ermutigende Vision vermitteln, daß noch nicht alles verloren ist. Selbstverständlich ist diese Grundstruktur noch mit entsprechenden Handlungsabzweigungen, Actionsequenzen, Humor- und Liebesepisoden auf die geplante Gesamtlänge von neunzig bis hundert Minuten aufzupolstern.

Zum Filmstoff selbst: Geschichts- und Sagenforscher haben zutagegefördert, daß sich die von den Gebrüdern Grimm überarbeitete dramatische Geschichte von Hänsel und Gretel keinesfalls in Deutschland, ja nicht einmal in Europa zugetragen hat. Entsprechendes gilt für das Gehölz, in dem die beiden sich verlaufen hatten und darauf ihre seltsame Begegnung der mindestens dritten Art verzeichnen konnten. Den landschaftstypischen Gegebenheiten gemäß handelte es sich dabei nicht um Laub- oder Nadelbaumvegetation, sondern um einen Stechpalmenwald. Nur von zweitrangiger Bedeutung ist die Tatsache, das die englische Übersetzung für Stechpalmenwald "Hollywood" lautet.

 
 


Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald. Stunden verzweifelter Suche sind vergangen; der Rückweg ins elterliche Haus bleibt unauffindbar.

GRETEL Ich kann nicht mehr!

HÄNSEL Wir müssen weiter! Bald wird es dunkel!

GRETEL Aber wir haben uns vollkommen verirrt!

HÄNSEL Keine Angst, Gretel; ich bin bei dir!
nimmt ihre Hand; gemeinsam irren sie umher, die Stechpalmen treiben wohlplazierte Risse in ihre Kleider, besonders in die von Gretel. Schließlich stoßen sie auf eine kleine Lichtung, von der aus fünf Wege sternförmig nach allen Richtungen im Wald verschwinden. Einer sieht besonders unheimlich aus; Hänsel deutet darauf.
Hier müssen wir entlang!

GRETEL Ausgerechnet hier? Erkennst du den Weg wieder?

HÄNSEL Nein, wieso?

GRETEL Woher willst du dann wissen ...

HÄNSEL blickt sie durchdringend an
Vertrau mir, Gretel!

GRETEL Der Weg sieht so unheimlich aus, Hänsel!

HÄNSEL Gretel, wir haben keine andere Wahl!
Schweigend fügt sich Gretel. Ängstlich schleichen sie den unebenen, düsteren Pfad entlang. Nach einer Biegung stehen sie unvermittelt vor einem kleinen Haus, dessen Wände und Dach aus an Hamburger erinnernde Lebkuchen gezimmert sind.

GRETEL O mein Gott!

HÄNSEL Wow!

GRETEL Das ist phantastisch!
Vorsichtig nähern sie sich dem Häuschen. Nachdem sie es zögernd umrundet haben, bricht Hänsel ein Stück Lebkuchen ab und probiert es.

GRETEL Hänsel!

HÄNSEL Gretel, ich weiß, was ich tue!

HEXE aus dem Inneren der Hütte
Knusper knusper Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?

GRETEL O mein Gott!

Hänsel legt schützend den Arm um sie; vorsichtig nähern sie sich einem Fenster, spähen hindurch; nichts ist zu sehen.

HEXE aus dem Inneren der Hütte
Knusper knusper Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?

GRETEL Wir müssen etwas tun! Tu' doch etwas!

HÄNSEL laut
Der Wind, der Wind, das himmlische Kind!
leise, zu Gretel
Ich muß herausfinden, was hier vorgeht!

GRETEL Nein, das ist zu gefährlich!

HÄNSEL Wir haben gar keine andere Wahl!
wendet sich um, will an der Lebkuchenwand entlangschleichen

GRETEL Hänsel?

HÄNSEL kehrt noch einmal um
Ja, Gretel?

GRETEL Bitte sei vorsichtig!
Mit wissendem Blick umarmt er sie kurz schweigend, dann macht er sich auf den Weg. Gerade, als er um die erste Ecke spähen will, kommt von eben da die Hexe ins Bild.

GRETEL O mein Gott!
Die Hexe packt Hänsel, zerrt ihn ins Haus.

HÄNSEL Gretel!

GRETEL Hänsel!!

Blende

Hänsel ist in einem Käfig gefangen, der vor dem Hexenhaus aufgestellt ist.

GRETEL verzweifelt
Sie hat dich erwischt!

HÄNSEL Das war die verdammte Hexe!!

GRETEL O mein Gott!

HÄNSEL faßt sie durch die Gitterstäbe hindurch an den Schultern, sieht sie ernst an
Gretel! Wir werden es schaffen! Vertrau' mir!

GRETEL Ich habe Angst!
beginnt zu schluchzen

HÄNSEL Ich habe einen Plan; aber du mußt mir vertrauen. Willst du das?

GRETEL zögert; dann, nachdrücklich
Ja, ich vertraue dir!


HÄNSEL
Gretel!

GRETEL O Hänsel!
umarmen sich durch die Gitterstäbe. Die Hexe kommt aus dem Haus. Gretel versteckt sich hastig, bevor sie entdeckt werden kann. Die Alte tritt an den Käfig.

HEXE Na los, steck' schon deinen Finger heraus, damit ich prüfen kann, ob du bereits fett genug bist, hä, hä, hä!

HÄNSEL nimmt verstohlen einen abgenagten Hühnerknochen und steckt ihn so zwischen den Stäben hindurch, daß die Hexe ihn für seinen Finger hält.
Was, noch immer so dünn? Verflucht! Na, dann wirst du eben weitergemästet, bis du dick und fett und saftig bist, hä, hä, hä!
zuckelt wieder ins Haus zurück

GRETEL verläßt vorsichtig ihr Versteck, kommt zum Käfig
Was wollte sie mit deinem Finger?

HÄNSEL grimmig
Dieses Ungeheuer! Ob ich schon fett genug bin, wollte sie testen! Fett genug für ihren Suppentopf!

GRETEL Du meinst, sie will dich ...

HÄNSEL Du hat recht, sie will mich fressen!

GRETEL O mein Gott!

HÄNSEL Aber so schnell kriegt sie mich nicht! Solange ich diese Knochen hier habe ...
Großaufnahme der Hühnerknochen
... wird sie mich für dürr und unappetitlich halten!

GRETEL Was, wegen diesen Knochen?

HÄNSEL nähert seinen Mund Gretel's Ohr, flüstert
Jedesmal, wenn sie kommt, um meinen Finger zu begutachten, stecke ich einen Knochen durch das Gitter, so ...
Großaufnahme eines Knochens, der durch die Stäbe gehalten wird
... und die Alte glaubt, ich bin noch spindeldürr und muß weitergefüttert werden!

GRETEL sieht ihn mit großen Augen an
Und das hast du auch gerade vorhin ...

HÄNSEL Sicher!

GRETEL Das ist phantastisch!

HÄNSEL Na, lange werde ich sie nicht mehr täuschen müssen!

GRETEL Wieso, was willst du tun?

HÄNSEL Wir werden hier verschwinden!

GRETEL Aber dazu muß du erst irgendwie aus dem Käfig entkommen; wie willst du das machen?

HÄNSEL Ich habe schon einen Plan! Dazu brauche ich deine Hilfe! - Kann ich auf dich zählen?

GRETEL Du weißt doch, daß ich dich nie im Stich lassen werde!

HÄNSEL gerührt
Gretel!

GRETEL Werden wir es schaffen?

HÄNSEL Vertrau' mir! - Aber zuerst müssen wir noch etwas Wichtiges erledigen!

GRETEL Was denn?

HÄNSEL Die Hexe! Wir müssen sie vernichten!

GRETEL entsetzt
O nein!

HÄNSEL Gretel, wir haben gar keine andere Wahl! Wenn sie am Leben bleibt, wird sie immer wieder Leute zu ihrem Haus locken, gefangennehmen und fressen! Willst du das?

GRETEL Nein, natürlich nicht, aber ...

HÄNSEL Es wird ganz schnell gehen, Gretel! Du mußt mir nur vertrauen und genau das machen, was ich dir sage!

GRETEL Okay, Hänsel! Was soll ich tun?

HÄNSEL Such dir einen dicken Ast und versteck dich! Wenn die Hexe wieder herkommt, um meinen Finger zu testen, schleichst du dich von hinten heran und - whamm!!

GRETEL O mein Gott!

HÄNSEL Gretel, wir haben ... es muß sein! Diese Hexe ist gefährlich! Irgendwann gehen mir die Hühnerknochen aus - und dann??

Blende

Gretel liegt, mit einem dicken Ast bewaffnet, hinter einem Strauch auf der Lauer. Die Hexe nähert sich dem Käfig. Während sie Hänsels Finger untersucht, schleicht das Mädchen sich von hinten heran und streckt die Alte mit einem Schlag nieder. Ein unmenschlicher, grauenerregender Schrei ertönt; aufwendige Tricktechnik läßt unirdische Wolkenformationen über die Szenerie wandern, übernatürliche Blitz- und Feuerkaskaden explodieren. Während orkanartiger Wind durch die Szenerie peitscht, bricht Gretel mit dem knorrigen Ast unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte die Käfigtür auf. Erleichtert fallen sich die Geschwister in die Arme. Während die Naturgewalten sich wieder beruhigen, blicken die beiden auf die reglos daliegende Hexe.

GRETEL Ist sie ...

HÄNSEL kniet neben ihr nieder; untersucht sie
Nein, sie lebt noch!

GRETEL drängend
Komm' weg von hier!

HÄNSEL Nein, Gretel! Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe? Sie muß vernichtet werden, damit die Welt von dieser Gefahr befreit ist!

GRETEL kämpft mit sich; dann, entschlossen
Du hast recht, Hänsel! Wir müssen es tun!

HÄNSEL Gib mir den Ast!
hebt ihn; will zuschlagen

GRETEL Halt, Hänsel, das ist sinnlos!

HÄNSEL Wieso?

GRETEL So kann eine Hexe nicht getötet werden! Weißt du nicht mehr, was in Vaters Buch steht?

HÄNSEL überlegt
Ich weiß nicht, was du meinst!

GRETEL Hänsel, denk nach! Eine Hexe kann nur durch Feuer getötet werden!

HÄNSEL Feuer?

GRETEL Ja!! Wir müssen ein Feuer machen!

HÄNSEL Nein, warte! Dort, im Haus - was ist das?

GRETEL Ja, du hast recht! Der Backofen! Wir müssen sie hineinschieben!

HÄNSEL O mein Gott!

Gemeinsam schleppen sie denn leblosen Körper der Hexe ins Haus, öffnen die Ofenklappe, hieven sie hoch. Während sie beginnen, die Alte mit dem Kopf voran in den Ofen zu schieben, kommt sie langsam wieder zu sich. Wieder ertönen bestialische, noch nie gehörte Schreie; ihr Körper windet sich. Die Haut wird runzlig und warzenbedeckt, die Hände krumm und groß. Aus den Fingerspitzen wachsen lange, spitze Krallen, mit denen sie versucht, die beiden Geschwister zu treffen. Ein Kampf auf Leben und Tod beginnt.

GRETEL keuchend vor Anstrengung
O mein Gott!!

HÄNSEL keuchend vor Anstrengung
Gib nicht auf, Gretel! Wir müssen es schaffen!

Einige Male finden die Krallen der Hexe ihr Ziel, hinterlassen bluttriefende Wunden in der Haut der beiden Geschwister. Dann, endlich, ist sie völlig im Ofen verschwunden. Während ein letzter, markerschütternder Schrei zu hören ist, färben sich die Flammen, die hinter der hastig zugeworfenen Klappe hervorzüngeln, grün. In panischer Angst rennen Hänsel und Gretel aus dem Haus, über den Hof, werfen sich am Rande der Lichtung in Deckung. Nun sind Hunderte von Schreien zu hören, wie sie vorhin die sterbende Hexe ausgestoßen hat. Vom Himmel über dem Haus fährt eine Wolkengestalt in der Form einer Windhose durch das Dach des Lebkuchenhäuschens. Das Gebäude beginnt dunkelrot zu glühen, dann hellrot, dann weiß. Schließlich bricht es unter ohrenbetäubendem Achtkanal-Sensurround-Hifi-Dolby-Krachen auseinander; eine an einen Atompilz erinnernde Rauchsäule bläht sich auf. Zahlreiche in der Form nicht genau definierbare Feuer- und Lichtgestalten schießen kreuz und quer über die Lichtung. Eine davon rast auf die beiden Geschwister zu, die vor Schrecken laut aufschreien, stoppt in wenigen Zentimetern Entfernung, mischt sich dann wieder unter die anderen. Die herumliegenden Teile werden von der nach oben steigenden Rauchsäule aufgesaugt und verschwinden mit ihr hinter der dichten Wolkendecke, begleitet von geisterhaften Lauten und Musik, die lebhaft an Carl Orff erinnert. Dann kehrt Ruhe ein; der Platz, an dem das Hexenhäuschen stand, ist leer.

GRETEL O mein Gott!

HÄNSEL streicht ihr beruhigend über das Haar
Es ist vorbei, wir haben es geschafft!
Beide umarmen sich. - Grandiose Abschlußmusik

GRETEL unter gleichzeitigem Weinen und Lachen
Wir haben es geschafft!!
blickt über die nun leere Lichtung, dann zum Himmel
Werden wir sie je wiedersehen?

Endeinstellung für den Nachspann: Flugaufnahme der Lichtung, leicht schwankend, hinterlegt mit leisem Kichern ...

 

 
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