Der Ersatz    von Nexo of Kystone

In München gibt's a'n Cyberspace, oans, zwoa, gsuffa!
  

 

Viele Kümmernisse, die uns im Leben widerfahren, gehen auf unser
eigenes Schuldkonto. Doch hin und wieder werden wir mit Schicksalschlägen konfrontiert, die außerhalb unseres Entscheidungsbereichs liegen und als höhere
Gewalt eingestuft werden müssen. Eine verhängnisvolle Fügung dieser Art ist der
beklagenswerte Umstand, daß Deutschland auf fast völlig erdbebensicherem Gebiet
liegt. Selbst unter Aufbietung aller derzeit denkbaren Mittel und Möglichkeiten dürfte diesem Mißstand in absehbarer Zeit nicht abzuhelfen sein.

Die Lage wäre hoffnungslos, gäbe es in München nicht die weltweit bekannte, segensreiche Einrichtung des Oktoberfests, das uns gerade bei solchen Prüfungen
des Himmels hilfreich zur Seite steht. Geologisch unterpriviligierte Mitbürger unseres Landes können hier nachholen, um was sie auf so grausame Weise betrogen werden,
so wie das in Folgenden Melissa und Frank beispielhaft praktizieren. Während ihres bereits einstündigen Wies'n-Bummels kommen sie an einem großen Unterhaltungs-geschäft vorbei, dessen Außendekoration und Lautsprecheransage sie magisch anziehen.

 
 



LAUTSPRECHER  MEINE SEHR GEEHRTEN DAMEN UND HERREN! WIR BIETEN IHNEN UNSERE NEUE ATTRAKTION, "ERDBEBEN"! DIE ABSOLUTE NEUHEIT AUF DIESEM FESTPLATZ

MELISSA  Meinst', des is' was?

FRANK  Schwer zum sag'n ...

LAUTSPRECHER  EIN HÖHEPUNKT FÜR SIE, HIER BEI UNS IM "ERDBEBEN"! EINMALIG AN AUSSTATTUNG, TECHNISCHER VOLLKOMMENHEIT UND KÜNSTLERISCHER GESTALTUNG!
Beide blicken zum oberen Teil der zweistöckigen Front, wo drei Meter hohe Wolkenkratzerkulissen gemütlich hin- und herschwanken.

FRANK  Ausschau'n tut's ned schlecht!

MELISSA  Scho', aber wie woll'n die da drin a' Erdbeb'n mach'n?

LAUTSPRECHER  SIE ERLEBEN HAUTNAH KATASTROPHEN, HIER BEI UNS IM "ERD-BEBEN"! LASSEN SIE SICH ÜBERRASCHEN DURCH DAS TOTALE CHAOS - HIER BRICHT ALLES ZUSAMMEN! - UND SIE SIND DIREKT DABEI!

FRANK  Solche Sach'n kann ma' wahnsinnig gut simulier'n; des mach'n s' bei der NASA auch so, zum Astronautentrainig!

MELISSA  Was, Erdbeb'n?

FRANK  Schmarr'n!

MELISSA  Wahrscheinlich zeig'n die da bloß an' 3D-Film oder so!

LAUTSPRECHER  DIREKT HEISST: KEINE VORFÜHRUNG, KEIN FILM, SONDERN LIVE! UND SIE KÖNNEN MIT DABEISEIN - HIER IM "ERDBEBEN"!

FRANK  Siehst'?

MELISSA  Wär' ja möglich g'wesn, oder?

FRANK  Gemma rein?

MELISSA  I weiß ned recht ...

LAUTSPRECHER  EINMALIG AUF DER GANZEN WELT, UND FÜR DIE GESAMTE FAMILIE, OB KIND, OB OMA, ABSOLUT UNGEFÄHRLICH!

FRANK  Hörst 'as? Brauchst überhaupt keine Angst hab'n!

MELISSA  entrüstet
So ein Blödsinn! I' hab doch kei' Angst vor dem Kasperltheater!

FRANK  Warum willst'n dann nicht 'rein?

MELISSA  Ich hab' ja nicht g'sagt, daß ich nicht 'reinwill! - Aber ob des was is' ...

LAUTSPRECHER  LASSEN SIE SICH ÜBERRASCHEN DURCH SPANNUNG, ABENTEUER, ACTION AM LAUFENDEN BAND! HIER ERLEBEN SIE DEN HÖHEPUNKT IHRES FESTPLATZBESUCHES, HIER, IM "ERDBEBEN"! STAUDÄMME BRECHEN, HÄNGEBRÜCKEN GEHEN ZU BRUCH, HÖHLEN VERSCHIEBEN SICH UND VIELES, VIELES AN ATTRAKTIONEN MEHR!

FRANK  drängend
Jetzt komm' halt!

MELISSA  Also gut, gemma!
Beide stellen sich in der Warteschlange vor der Kasse an

FRANK  Da bin i' ja g'spannt, wie's des mach'n mit de' Höhlen!

MELISSA  Aber über die Hängebrück'n bringst mi' ned 'rüber!

FRANK  Geh', da kann doch nix passier'n! Meinst, die täten da eine Zulassung kriegen?
Sie rücken bis zur Kasse vor; Frank zahlt die sechzehn Mark für ihren Eintritt, dann betreten sie einen länglichen Raum, in dem schon zahlreiche Besucher warten.

MELISSA  Sim'mer schon drin?

FRANK  I' glaub' schon!
Sie blicken sich um. Wände und Decke sind mit Felsimitationen verkleidet; an den Fugen dringt etwas Licht der Nachmittagssonne herein. Mittlerweile sind weitere Besucher nachgeströmt. Nachdem der Raum fast voll ist, wird die Zugangstür geschlossen, das Licht gedämpft. Eine neue Lautsprecherstimme meldet sich zu Wort.

LAUTSPRECHER  SIE GLAUBEN WOHL, SIE SIND HIER SICHER? - HA, HA, HA, HA! ABER DIESE HÖHLE IST EINSTURZGEFÄHRDET, UND EIN STARKES ERDBEBEN IST ANGESAGT! - HA, HA, HA, HA!
Ein dumpfes Grollen ist zu hören. Der mit Metall-platten ausgekleidete Fußboden beginnt, in seiner Längsrichtung etwas vor- und zurückzufahren. Mit einem erschreckten Aufschrei klammert Melissa sich an Frank fest, der dadurch selbst aus dem Gleichgewicht kommt und sich mit einer Hand an der Pappmachéwand abstützt.

MELISSA  Meinst, daß's so is' bei am Erdbeb'n?

FRANK  Bei am leicht'n vielleicht!
Nun beginnen die Seitenwände, sanft zu schwanken. Die "Fels"-Decke senkt sich, berührt die Köpfe der Größeren. Da sie aus einer in Form gepreßten Schaumstoffmatte besteht, wogt sie in malerischen Wellen vom einen Raumende zum anderen.

MELISSA  Hoffentlich schmeiß'n s' ned mit irgendwas!

FRANK  Spinnst du?
Die Wände beruhigen sich, die Decke zieht sich nach oben zurück, der Boden bleibt stehen. Am gegenüberliegenden Ende öffnet sich eine Tür, ein Angestellter zeigt, wo es weitergeht. Die Menge betritt einen neuen Raum, in dem hinter Maschen-draht die mühevoll gebastelte Dekoration eines Kraftwerk-Kommandoraums aufgebaut ist. Inmitten einiger etwas hilflos anmutender Aggregate und Schalttafeln steht der durch Druckluft gesteuerte Ingenieur, ganz authentisch mit einem Schutzhelm versehen. Der gewollte Effekt ist, daß die Menge sich als Besuchergruppe des Kraftwerks versteht. Während der luftgesteuerte Ingenieur spricht, bewegt sich sein Holzmund im Takt.

DRUCKLUFTINGENIEUR   Ah, schon wieder neue Besucher! Meine Damen und Herren, ich bitte wegen einer technischen Störung um etwas Geduld!

MELISSA  beunruhigt
Meinst, daß was passiert ist?

FRANK   beherrscht
Ah' wo!

QUÄKENDER LAUTSPRECHER   ACHTUNG, ACHTUNG, WIR ERWARTEN EIN ERDBEBEN DER STÄRKE 10!

FRANK  Siehst, des g'hört dazu!
Aggregate schwanken, Lichter blinken, der Druckluftingenieur verharrt entsetzt in wächsener Bewe-gungslosigkeit. Der Boden beginnt wieder, hin- und herzufahren, quer diesmal.

MELISSA  Fast wie in dem Film, weißt schon!

FRANK  Des kannst doch ned vergleich'n!
Nachdem das Kraftwerk sich wieder beruhigt hat, öffnet sich eine weitere Tür. Ein anderer, wahr-scheinlich nicht mit Druckluft betriebener Angestellter deutet auf den nächsten Raum. Dort führt ein mit Geländern gesicherter, schmaler Steg durch eine große, etwa fünf Meter lange, rotierende Walze. Beim Hindurchgehen hat man das Gefühl, der Steg drehe sich langsam um sich selbst.

FRANK  Geil!

MELISSA  Stark!

FRANK  Da glaubst echt, du stehst am Kopf! Des is des, was i' gmeint hab mit'm Astronautentraining!
Der Weg führt weiter, über zwei motorisch in Schwankung versetzte Laufstege ins obere Stock-werk, wo eine Batterie von Zerrspiegeln angebracht ist. Die körperlichen Vorzüge der Vorübergehenden werden in ihr Gegenteil verwandelt.

FRANK  Was soll denn der Schmarr'n da!

MELISSA  Aber echt! Des alte Graff'l können's wirklich bald amal vergeß'n!
Nun betreten sie einen großen, sich über beide Stockwerke erstreckenden Raum. Im Zickzack führen auf der einen Seite weitere schaukelnde und schwankende Stahlstege bis zum Boden hinab. Auf der anderen Seite ist eine Tribüne mit ungefähr sechzig Plätzen aufgestellt, die fast völlig mit zumeist männlichen Zuschauern besetzt sind.

MELISSA  betritt zögernd den ersten Steg
Da haut's mich bestimmt hin!

FRANK  Ah, Schmarr'n! Du mußt di' bloß gut am Geländer festhalten und zügig 'rübergeh'n!

MELISSA  erreicht den zweiten Steg
Ich möcht' bloß wissen, was so interessant is', daß die da alle zuschau'n!
Aus dem Boden kommt ein kurzer, starker Druckluftstrahl, bläst ihren Minirock hoch. Mit einem spitzen Schrei spring sie zur Seite. Begeistertes Gröhlen von der Tribüne.

FRANK  grinsend
Weißt 'as jetzt, was da zum schau'n gibt?

MELISSA  mit hochroten Kopf
Was des mit am Erdbeb'n zu tun hat, möcht' ich gern wiss'n!
Auf ihrem weiteren Weg ist sie vorsichtiger. Geschickt umgeht sie die kleinen Löcher in den Platt-formen, aus denen die Luftstrahlen abgeschossen werden. Doch nach dem letzten schwankenden Steg bleibt ihr nichts anderes übrig, als den dort angebrachten Gitterrost zu betreten, unter dem ein kräftiges Gebläse für den gewünschschten Effekt sorgt. Zu allem Überfluß bleibt sie mit einem Absatz darin hängen; während ihrer vezweifelten Befreiungsversuche genießt die Zuschauermenge unter lautem Johlen und Pfeifen die sich ihr ausgiebig bietenden, reizvollen Einblicke. Schließlich kann Melissa ihren Schuh aus dem Gitter lösen, stürzt auf den Ausgang der Halle zu. Frank folgt ihr grinsend.

MELISSA  ärgerlich
Des hat dir wieder gfall'n, gell?

FRANK  Du wirst doch noch an Spaß versteh'n, oder?

MELISSA  Des san mir schon so Späße, da kann ich d'rauf verzicht'n!
Sie kommen zu zwei großen hintereinander liegenden Walzen, die sich gegenläufig drehen, bewacht von einem weiteren Angestellten. Offensichtlich geht es darum, hindurchzulaufen.

MELISSA  Na, des mach i' ned!

FRANK  Geh, Schatzerl, jetzt hab' doch kei' Angst!

MELISSA  Na, des mach i' ned!

FRANK  Da is' doch nix dabei!

MELISSA  Dann mach's halt du! I' geh' da ned durch!

ANGESTELLTER  Traun's Eahna ruhig! Wenn was is', schalt' i' glei' ab!

MELISSA  beißt die Zähne zusammen, gibt sich einen Ruck. Mit den Schuhen in der Hand erreicht sie taumelnd und torkelnd, aber unversehrt das andere Ende. Sie strahlt.
Was is'? Komm' scho!
Auch Frank erreicht das Walzenende ohne Sturz. Hand in Hand verlassen Sie den Bau.

MELISSA  Also, mit am richtigen Erdbeb'n hat des nix zu tun!

FRANK  Na, des glaub' i' auch ned! Aber so ein bißerl ein Gefühl kriegt ma' schon mit!

MELISSA  Was will mer verlangen - für acht Mark!

 

 
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