Ein Musikdateiformat schafft Demokratie von Nexo of Kystone Irgendwie
ist alles so, wie es schon einmal war. Damals, als die CD auftauchte. Heute sind die Visionäre zu Aposteln geworden. Singen das Klagelied der digitalen Killer aus dem Netz. Und auch bekannte Floskeln sind wieder zu lesen, vornehmlich in den Branchenblättern der Musikindustrie - allen voran dem "Musikmarkt": "MP3 ist ein Hackerspielzeug." - "Wird sich nicht durchsetzen" - "Das Aasgeierformat der Musikbranche." - "Die Soundqualität ist unzulänglich." Also alles wie gehabt? Wer das glaubt, hat nicht genau hingesehen. Oder hingehört. Denn die neuen Apostel haben - im Gegensatz zu ihren Vorgängern aus der Vinyl-Ära - ein deutliches Zittern in der Stimme. Vinyl oder CD - das war ein Glaubenskrieg. Eher intellektuell als wirtschaftlich begründet. Ein Kampf der Ideologien. CD oder MP3 - das ist eine Existenzfrage. Sein oder Nichtsein. Digitale Musik aus dem Netz ist nur ein weiterer Stein im Innovationsmosaik der globalen Onlinegesellschaft. Das Internet als soziologische Revolutionsmaschine hat der Musikindustrie in systemeigener Konsequenz das geliefert, was sie verdient: Gefahr. Eine Branche, die das wichtigste Kulturgut unserer Zeit zu vakuumverpackter Henkelware verfremdet hat, sieht sich unversehens den Auswirkungen des eigenen Handelns gegenüber. Jene, die am lautesten "Mord" schreien, haben oft die meisten Leichen im Keller. Die Majors der internationalen Tonträgerindustrie werden nicht müde, die schrecklichen Auswirkungen der MP3-Piraterie an alle verfügbaren Banner zu schlagen. Wird nicht der Komponist, der Textdichter, der Arrangeur eines illegal heruntergeladenen Musikstücks brutal um den Lohn seiner kreativen Kraft gebracht? Der Interpret schändlich mißbraucht? Er wird, zweifellos. Was bittere Magensäure aufsteigen läßt, ist die Heuchelei der Lamentierer. Nicht um das seelische und wirtschaftliche Heil der Künstler geht es den multinationalen Plattenkonzernen. Das beweisen sie seit geraumer Zeit durch die brutale Ex-und-Hopp-Verwertung unter Vertrag genommener Junginterpreten. Es geht um die eigenen Pfründe. Wenn ein Unternehmen öffentlich gegen den Verlust eigener Gewinne auftritt, tut es das natürlich nicht wortwörtlich, Image bewahre. Es holt die Killerapplikation der öffentlichen Konfliktkommunikation aus dem Arsenal - eine Waffe namens "Arbeitsplätze". Nicht den dahinschmelzenden Gewinnen trauert man nach, bewahre - man zittert um die vielen, vielen Arbeitsplätze, die man eben diesen dahinschmelzenden Gewinnen opfern muß, um die verzweifelten Familienväter, die händeringend die Arbeitsämter belagern, die schluchzenden Familienmütter, die ihren Lieben den geliebten Familienwirsing verweigern müssen, den darbenden Familienkindern, die mit großen, unschuldigen Augen auf die verantwortungslosen MP3-Piraten starren ... Schon lange nicht mehr haben die Pressesprecher der Unterhaltungskonzerne die Vokabel "Arbeitsplätze" so oft im Mund geführt wie derzeit. Natürlich sollen die Rechte der Komponisten und Künstler gewahrt bleiben. Einnahmen aus künstlerischer Tätigkeit sind ehrenwert und gerechtfertigt. Nur eine heuchlerische Pseudoethik verlangt vom "wahren" Künstler, die Relevanz seines Schaffens durch Brotlosigkeit zu belegen. Dennoch fällt auf, daß die Lamentosänger fast ausschließlich in den Chefetagen der Musikunternehmen und Einzelhandelsketten sitzen. In Künstlerkreisen scheint sich die Beunruhigung über das MP3-Phänomen und die daraus erwachsenden Riesenschäden sehr im Rahmen zu halten. Das beflügelt die Phantasie. Wer hat nun eigentlich den Schaden?
"MP3 - aha. Mein Labelmanager ist ziemlich beunruhigt - dann sollte ich es auch sein. Sagt, die Einnahmen schmelzen dahin. Hmm. Jeder Wichser kann meine Songs gratis aus dem Netz saugen. Mist, das. Aber sag mal - wenn jeder seine Songs einfach so ins Netz setzen kann - wieso dann nicht ich selbst? Wozu brauche ich dann eigentlich noch ein Label? Mit dem, was ich durch den Direktvertrieb mehr einnehme, kann ich meine Werbung zweimal bezahlen - und mache sie auch noch genau so, wie ICH sie will! Alles was ich brauche, ist ein Sicherheitsmechanismus im Dateiformat - aber habe ich da nicht etwas über MP4 gelesen? ... Mein Labelmanager ist ziemlich beunruhigt - das sollte er auch sein. Ich werde mir mal meinen Vertrag etwas genauer ansehen, oder nein, das soll gleich mein Anwalt machen ..." Da
liegt der Hund begraben. Nicht in den Regalen mit den nicht abverkauften CDs und
den geklauten Booklets. Sondern in den Hirnen der Künstler, in denen nach
und nach die Erkenntnis reift, daß eine komplette Industrie möglicherweise
überflüssig ist. Überflüssig wie ... ja, wie CDs. | |
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