Von Nexo of Kystone Hypatia
sagt, das sei ganz normal. Sie hat sicher recht. Die meisten hier denken wie sie.
Für die große Mehrheit scheint es die eigentliche Motivation für
ihre virtuelle
Existenz zu sein. Worum es geht? Es geht um die oft gestellte
Frage: Wer verbirgt sich hinter dem Avatar? Dabei stört mich bereits die
Fragestellung. Wieso "verbirgt"? Hypatia
hat nicht "verbirgt" gesagt. Sie findet es einfach spannend,
herauszufinden, wer die Menschen sind, mit deren Avataren sie sich in Phantasus
so oft unterhält, mit denen sie Scherze macht, manchmal blödelt, hin
und wieder ein ernsthaftes Gespräch führt. Das ist es, was sie ganz
normal findet. Ich kann mir nicht helfen: Meiner Ansicht nach wird mit dieser
Haltung eine der größten Chancen
unserer Zeit vertan, zwischenmenschliche Beziehungen auf ihre nächste Evolutionsstufe
zu hieven. Meine
Motivation, mich in virtuellen Welten anzusiedeln, ist eine ganz andere. Mit geht
es nicht darum, eine Existenzform zeitweise mit einer anderen zu vertauschen.
Ich möchte eine dazugewinnen.
Die durch den Computer möglich gewordene Onlinekultur hat eines der fundamentalsten
Prinzipien zumindest in Frage gestellt: Du
hast nur ein Leben. Wir
können machen, was wir wollen: Ob wir unsere vorurteilsfreie, aufgeklärte
Gesinnung bewußt einsetzen, den Blick für das Wesentliche schärfen,
den Menschen hinter der Fassade suchen - am Ende sind wir doch die Instinktwesen,
die mit einem schönen Gegenüber lieber sprechen als mit einem häßlichen,
die einem dicken Menschen nur unter besonderen Bedingungen den Job geben, für
den sich auch ein gleich qualifizierter Schlanker beworben hat, die Personen ablehnen,
deren Modeempfinden nicht mit dem eigenen übereinstimmt, die einen Rollstuhlfahrer
mit ihrem Mitleid erniedrigen. Natürlich haben wir all diese Dinge im Griff
und können damit auf zivilisierte
Weise umgehen. Es bleibt aber Tatsache: Wir sind Sklaven
unserer Impulse, und es ist nur eine Frage des Charakters, der Erziehung und der
Willensstärke, die darüber bestimmt, wie weit wir uns vom Urmenschen
entfernen. Der Cyberspace bietet uns die Chance, diese Erblast
aus einer dunkeln Vergangenheit dereinst hinter uns zu lassen. Auch
ich bin ein Knecht meiner Instinkte.
Wenn ein Avatarmädchen einen hübschen Kopf trägt, reagiere ich
positiv. Dennoch sehe ich in meiner virtuellen
Existenz
andere Aspekte. Mich interessiert nicht, wie weit das Avatarbild der Gestalt im
realen Umfeld entspricht. Ist sie in "Wirklichkeit" häßlicher, hübscher,
dicker, dünner? Hat sie schlechte Zähne? Wie klingt ihre Stimme? Ist
sie gut im Bett? Das alles ist für mich ohne Bedeutung. Treffe
ich auf ein weibliches Wesen im virtuellen Raum, von dem ich mich angezogen fühle,
gelten neue Regeln. So unverfälscht
können Wertmaßstäbe
nur im Cyberspace überleben: Das, was sie mir mittels Tastatur übermittelt,
scheint auf ein nettes, warmherziges, offenes Wesen zu deuten. Das, was sie mir
unter Investition ihrer Tokens an optischem Erscheinungsbild übermittelt,
gefällt mir. Ich sehe, wie sie sich sieht, nicht, wie eine höhere
Macht
sie gestaltet hat. Im Cyberspace hat sie sich selbst erschaffen. Damit sagt sie
mir mehr über sich, als sie es in der realen Welt könnte. Wenn ich sie
im Cyberspace lieben könnte - was sagt das schon über die reale Welt
aus? Wie
aus dem Gesagten leicht abzuleiten ist, bin ich kein überzeugter Anhänger
von RW-Treffen (RW: Real World). Sie bedeuten für mich die Entjungferung
einer Utopie. Gemäß meiner Vision habe ich durch meinen Zuzug nach
Phantasus eine Parallelwelt
hinzugewonnen, eine Parallelwelt, die mir die Gelegenheit gibt, Idealvorstellungen
zu verwirklichen (zumindest im Versuch), Träume zu leben, Verantwortungen
abzulegen und einen gesunden Schuß Anarchie
wiederzugewinnen. Genau dahin werden sich Onlinewelten entwickeln, wenn die zugrundeliegenden
Technologien einmal eine komplexere und subtilere Kommunikation erlauben. Schon
heute gilt für mich: Ich führe ein zweites Leben in einem Gegenuniversum.
Doch Gegenuniversen bestehen aus Antimaterie,
wie jeder Sience-Fiction-Leser weiß. Demnach bedeuten RW-Treffen das Zusammenführen
von Materie und Antimaterie. Das Ergebnis eines solchen Vorgangs dürfte jedem
bekannt sein. Um
ehrlich zu sein: Ich schaffe es nicht, diese Vorstellung unangenehm zu finden.
Eigentlich komisch. Man hat doch ein gewisses Selbstwertgefühl. Dennoch gefällt
mir die Idee, für eine äußerst unattraktive RW-Existenz gehalten
zu werden. Was da wohl dahintersteckt?
Mal
nachdenken ... Eure
Meinung? Euer Kommentar? Eure Anregungen?
Der Cyberspace
befindet sich derzeit in seinem frühen Pionierstadium. Für mich bedeutet
er allerdings jetzt schon ein wenig das wiedergewonnene Paradies.
Einige der tiefgreifendsten Probleme des Menschen basieren auf seiner Materiegebundenheit.
Die meisten Signale, die über das Schicksal von Beziehungen zu anderen entscheiden,
sendet der Körper aus. Der erste, visuelle Eindruck steht oft wie eine Brandmauer
zwischen uns und unserem Sozialverhalten. Ob wir wollen oder nicht - unsere archaische
Vergangenheit, die wir über die Evolutionskette überraschend unversehrt
herübergerettet haben, steuert unsere Impulse bei der Bewertung anderer auf
fatale Weise. Das Aussehen, der Habitus, die Körpersprache, die ästhetischen
Auffassungen - all das und noch viel mehr schafft eine Flut von Vorlaufeindrücken,
die die unvoreingenommene Bewertung des eigentlichen Menschen verbauen.
Stimmt nicht, sagt Hypatia. Auch hier, in Phantasus, hängen die Männer
mit Vorliebe um die schlanken Mädchen herum, hecheln den besonders hübschen
Gesichtern hinterher. Ich weiß. Auch in entgegengesetzter Richtung läßt
sich Ähnliches beobachten: Muskulöse Männerkörper sind bei
den Mitbürgerinnen beliebter als die korpulenten oder die schlanken. Bei
allen? Nicht bei allen. Ebenso, wie man in der realen Welt verschiedene Neigungen
und Vorlieben vorfinden kann, ist es auch hier: Es gibt Phantasianerinnen, die
den dicken oder dünnen Typ bevorzugen, ebenso männliche Mitbewohner,
die das Barocke bevorzugen. All das bestätigt nur meine Auffassung. Die meisten
hier betrachten die virtuelle Existenz nicht als hinzugewonnenes Universum, sondern
nur als Instrument,
das ihrer Realweltexistenz
dienlich sein soll. Entsprechend transportiert man alle Verhaltensweisen, Gewohnheiten
und Impulse mit hierher. Das ist legitim. Jeder hat das Recht, aus seiner virtuellen
Existenz das zu beziehen, was ihm am Wichtigsten ist. Aber schade ist es doch.
Es gäbe so viel Wichtigeres.
Das Gespräch mit Hypatia weckt Monate alte Erinnerungen in mir. Von Anfang
an bedeutete mir der Kontakt mit Menschen im Cyberspace
etwas völlig anderes als die Erweiterung meines Bekanntenkreises in der realen
Welt.
Das gilt für allgemeine Freundschaften ebenso wie für die Erfahrungen
mit dem anderen Geschlecht.
Und natürlich:
das Ganze auch andersherum. Die Person, die ich im Cyberspace darstelle, ist ein
Geistwesen,
eine entmaterialisierte Version meiner selbst. Wer bin ich, daß ich meine
körperliche Existenz dem gleichsetzen darf? Wie kann mein Dasein in einer
idealisierten, unbelasteten,
unschuldigen Traumwelt
den Einbruch eines brachialen Körperwesens aus einer brutalen
Materiewelt
überstehen? Warum sollte ich eine solche Attacke vornehmen?
Ich werde mit meiner Meinung noch geraume Zeit ziemlich alleine dastehen. Das
bin ich gewöhnt. Und wenn meine Prognosen einmal wahr werden, kann sich niemand
mehr daran erinnern, daß ich sie einmal gestellt habe. Auch daran bin ich
gewöhnt. Vorerst werde ich mit der Vermutung anderer leben müssen, ein
unansehnliches Äußeres hinter einer überkandidelten Ideologie
zu verbergen. Wer weiß, vielleicht bin ich ein nach altem Schweiß
stinkender, hängebäuchiger Glatzkopf (siehe Avatar!) im fleckigen Jogginganzug,
auf dem schmalen Grat zwischen Spätrentner und Scheintod?
Für alles ist Raum im Forum
des AVATAR!