Palast der Kugeln

Eine Kurzreise in die Online-Welt "The Palace"
von Nexo of Kystone

 

 

Hinter der Häßlichkeit von Newbie-Avataren scheint Methode zu stecken. In meiner virtuellen Heimatstadt Phantasus sind es vor allem die androgynen Standardköpfe, die den Neuankömmling motivieren sollen, so bald wie möglich einen Gesichtswechsel vorzunehmen. Die WorldsAway-Grafiker haben dafür einen simplen Trick angewendet, der bereits jedem angehenden Kunststudenten bekannt ist: Die Augen werden aus ihrer natürlichen Position in halber Kopfhöhe ein wenig angehoben - und fertig ist das Pferdegesicht. In The Palace hat man die Methode mit grausamer Konsequenz ins Unerträgliche gesteigert: Frisch angekommen, ist man eine Kugel. Ein glattpolierte, körper-, arm- und beinlose Kugel.


Screenshot The Palace    Übrigens: Der nächste AVATAR erscheint am 1. September 1997 !


 

 

The Palace gehört zweifellos zu den erfolgreichen Online-Weltsystemen. Seit seiner Entstehung ist das Palace-Universum auf eine große Zahl von Welten - hier Paläste genannt - angewachsen. Neben öffentlich zugänglichen Palästen gibt es eine Reihe von privaten und nur für geschlossene Benutzerkreise verfügbare Szenarien. Ein Entwicklungssystem erlaubt die Generierung eigener Palace-kompatibler Welten.

 

Die einzelnen Locales bestehen in der Regel aus einer Hintergrundgrafik sowie den Avataren und diversen Objekten, die man einsammeln und zur Ausgestaltung des eigenen Avatars verwenden kann. Und genau hier - bei den Avataren - habe ich die größten Schwierigkeiten, The Palace als wirklich vollwertige grafische Onlinewelt zu akzeptieren.

 
 

Die Kugel nämlich, die dem Neuankömmling zugeordnet wird, ist auch weiterhin die führende Avatar-
Grundform. Zwar steht eine Reihe von Gesichtsausdrücken zur Verfügung. Zwar gibt es eine Unzahl von Zubehör, um die Kugeln mit Mützchen, Bärtchen, Öhrchen und Beinchen aufzu-
päppeln, ihr Biergläser oder Luftballons mitzugeben, sie auf fliegenden Teppichen einherschweben zu lassen, aber dennoch - Kugel bleibt Kugel. Mit großem Aufwand eine riesiges Grafik-
Onlinesystem aufzubauen - nur, um darin als Kugel umherzukullern?

 

Das alleine hätte The Palace sicher nicht zu der aktuellen Größe heranwachsen lassen. Es gibt noch einen anderen Weg, seinen Avatar zu gestalten: Jede beliebige Grafik kann mit der Kopierfunktion des Palace-Browsers eingebracht und als Avatar verwendet werden. Der Browser transportiert die Grafik zum Server und macht sie von dort allen zugänglich. Danach kann sie von anderen kopiert und ebenfalls verwendet werden. Diese Offenheit des Systems macht die große Stärke von The Palace aus.

 



 

Eine importierte Grafik kann sechsmal so groß sein wie die Kugelgrundform. Beim Import teilt das Programm die Grafik selbsttätig in entsprechend viele Portionen auf und setzt sie bei der Verwendung als Avatar wieder richtig zusammen. Die sechs Grafikelemente kann man aber auch für Mini-Animationen nutzen. Auf diese Weise lassen sich mehrere Avatare konfigurieren und einzelnen Funktionstasten zuordnen. Online genügt der Druck auf die entsprechende Taste, um einen der vorbereiteten Avatare zu wählen. Allerdings scheint es mit dem System noch einige Schwierigkeiten zu geben. Frisch angekommen, wohnte ich sogleich einem Gespräch bei, bei dem ein Palastbewohner dem anderen von dem Problem berichtete, daß der eigene Bildschirm den zusammengebastelten Avatar zwar korrekt darstellt, er aber nicht von allen anderen so gesehen wird.

 
 
 

Die Möglichkeit, eigene Grafiken einzubringen, bietet die Chance, sich ohne stilistische Vorgaben des Systembetreibers so darzustellen, wie man als Avatar erscheinen will. Im Palace können die meisten der Ansässigen damit allerdings nicht allzuviel anfangen - meiner Meinung nach. In der Regel präsentieren sie sich durch Fotografien. Das allerdings macht nur Sinn, wenn man sein eigenes Foto verwenden würde. Ich weiß natürlich nicht, ob die Palastbewohner dies tun - wenn es der Fall ist, wäre ich zum ersten Mal in meinem virtuellen Leben interessiert, die dahinterstehenden Menschen in der körperlichen Welt kennenzulernen: Eine derartige Ansammlung von schönen Menschen ist mir bisher noch nicht untergekommen.

     

Das Palace-System versteht die Hintergrundgrafik nicht etwa als einen virtuellen Raum, sondern eher als einen bebilderten Desktop. Die anwesenden Avatare plazieren sich beliebig irgendwo auf dem Bildschirm. Boden und Schwerkraft spielen keine Rolle. Es ist natürlich - wie vieles andere - Ansichtssache, aber für mich ist das keine virtuelle Welt. Es gibt Türen und andere Bildzonen, die in weitere Räume oder Szenen führen, doch dort angekommen, schwebt man wieder beziehungslos herum.

 

Spiele sind einer der wichtigsten Faktoren in The Palace. Es gibt eine Unmenge von Spieleräumen und eine ebenso große Menge an Spielen. Zusätzlich führen eingebaute Links zu den unterschiedlichsten Websites, die auch kommerzielle Inhalte haben. Im "Welcome Palace", in den man sich für eine kostenlose, dreistündige Vollfunktion-Testphase einbuchen kann, sind eine Reihe von Ausstattungs- und Informationsräumen untergebracht. Sehr hilfreich ist die "Palace-Tour", die man auf Mausklick starten kann. Sie führt den Newbie vollautomatisch durch verschiedene Räume und erklärt dabei die wesentlichsten Techniken für Navigation und Avatar-Handling.

 

Ein Wirtschaftssystem wie in WorldsAway gibt es im Palace nicht. Entsprechend ist auch keine virtuelle Währung vorhanden. Alles, was man an Objekten oder Avataren ergattern kann, steht frei zur Verfügung. Lediglich im Objektraum des Welcome Palace ist die Bitte zu lesen, für ein aufgenommenes Objekt ein anderes dazulassen. Bei meinem kurzen Trip durch die Paläste konnte ich auch unter den Spielen keines entdecken, das Gewinnmöglichkeiten bietet. Wie sollte es auch - ohne zugrundeliegende Währung?

 




 

Die zentralen Fragen sind natürlich: Wie ist die Chat-Qualität? Kann man sich in The Palace heimisch fühlen? Nach der dreistündigen Testphase wage ich nicht, darüber ein Urteil zu fällen. Auch, nachdem ich die ersten Bedienhürden überwunden hatte und relativ unbeschwert umherwandern konnte, wurde ich ein Gefühl der Unpersönlichkeit nicht los. Sowohl meine Gespräche als auch andere von mir beobachtete Dialoge kamen über das "Hallo-wie-geht’s"- und "Wo-kommst-du-her"-Stadium nicht hinaus. Das mag daran gelegen haben, daß sich im Welcome-Palace (auf ihn beschränkt sich der aktive Part der Testregistrierung) hauptsächlich Newbies herumtreiben. Meine Besuch in anderen Palästen konnte nicht wesentlich zur Klärung der Frage beitragen. In keinem der anderen Paläste (außer dem "Hauptpalast" The Palace) konnte ich andere, bereits ansässige Avatare finden.

 
 
 

Positiv stellt sich für mich dar, daß es keine globale Decent-Talk-Richtlinie zu geben scheint. Entsprechend rauh und saftig ist zuweilen der Umgangston. Es bleibt den Betreibern der einzelnen Paläste überlassen, hier einzugreifen. So steht beispielsweise vor dem Palast "The House of Blues" ein großes Schild, das die Ankommenden über den Hausbrauch aufklärt: "Alle Gespräche werden aufgezeichnet."

 

Die überall präsenten Roboter haben gute und schlechte Seiten. Ganz praktisch - besonders bei den chaotischen Gegebenheiten frei umherschwebender Avatare - ist der Begrüßungsroboter. In einem Locale ankommende Avatare werden durch eine Sprechblase "Hey, it's <Avatarname> !" angekündigt, was unvermutet an den Zeremonienmeister am Schloß Louis' XIV denken läßt. Ausnehmend gräßlich ist der "Ausschmückungsroboter": Aus mir nicht verständlichen Gründen, zu mir nicht verständlichen Anlässen und an von mir nicht voraussehbaren Locales werden die eigenen Texteingaben "aufgemotzt", wohl in dem abwegigen Glauben, auf diese Weise mehr Impulsivität in die Dialoge zu bringen. Tippt man beispielsweise "How are you, Nic?" erscheint in der Sprechblase auf magische Weise: "Say, how are you, Nic, dude?" Die am Satzanfang und Satzende zugefügten Wörter wechseln im Zufallsraster. Zuweilen habe ich sogar absolute Maulsperren erlebt: In solchen Fällen wird jede Texteingabe, wie lang oder kurz sie auch sein mag, zu kurzen Begeisterungsfloskeln wie "Sharp!", "Wow", "Say!". Sollte es keine Möglichkeit geben, diese Sprachverstümmelungsfunktionen abzuschalten, erübrigt sich der gesamte Palace für ernsthafte Chat-Aktivitäten.

 
 

Wie bereits aus dem Gesagten ersichtlich ist, erscheinen Texteingaben in Sprechblasen, die nach einiger Zeit wieder verschwinden. Nach meiner Beobachtung ist die Verweildauer der Blasen abhängig von der enthaltenen Textmenge. Für Dialoge genügt diese Funktion, um dem Gespräch ohne Anstrengung folgen zu können. Schwieriger wird es bei Gruppengesprächen und Stammtischen. Hier geht sicher eine Menge an Kommunikation verloren, weil sich nicht alle Textblasen schnell genug lesen lassen. Schmerzhaft vermisse ich die aus WorldsAway bekannte Scrollfunktion, um frühere Stellen eines Gesprächs nachblättern zu können. Auch eine Mitschneidefunktion konnte ich nicht finden.

 

Zusammenfassend stellt sich für mich The Palace als ein System vergangener Tage dar. Eine grafische Onlinewelt sollte heute konfigurierbare, bewegliche und ausdrucksstarke Avatare beherbergen, die mit ihrer virtuellen Umgebung interagieren können. All das vermisse ich in The Palace. Vielleicht ist das der Grund, warum sich seit einiger Zeit - trotz der beengten Verhältnisse - in der Beta-Umgebung von WorldsAway 2.0 so viele Palastbewohner tummeln.

URL von The Palace: http://www.thepalace.com

 
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