Ein
Chat-Planet zieht ins Internet
von Nexo of Kystone
(Anmerkung: Der Artikel
entstand kurz vor der offiziellen Inbetriebnahme von Dreamscape 2.0)
Vor einigen Jahren las ich einen Sience-Fiction-Roman, dessen Titel ich leider vergessen habe. Auch der Name des Autors ist mir entfallen. Der Stilistik und dem Inhalt nach könnte es Jules Verne sein, aber in meiner Sammlung habe ich die Geschichte bei diesem Autor nicht gefunden. Es geht darin um eine ferne Zukunft - alle Planeten unseres Sonnensystems sind mittlerweile von Menschen besiedelt. Doch der Menscheit droht eine schreckliche Gefahr: Die Sonne nähert sich dem Ende ihrer Lebensspanne und droht, in einen weißen Zwerg zusammenzufallen. Da reift unter den Bewohnern der Welten ein phantastischer Plan. Jeder Planet erhält einen gigantischen Raketenantrieb, mit dessen Hilfe er die Umlaufbahn um die Sonne verlassen kann. Der Roman handelt vom Bau der Antriebe, dem wehmütigen Abschied von der eigenen Sonne, der abenteuerlichen Planetenkarawane durch das Universum und schließlich dem Finden einer jungen, unverbrauchten Sonne, in deren Umkreis die Menschheit eine neue Heimat findet.
An diesen Roman (war es nicht doch Jules Verne?) muß ich in letzter Zeit oft denken. Besonders, wenn ich mich in Dreamscape 2.0 einlogge. Auf virtueller Ebene steht den Bewohnern von Dreamscape bald das gleiche bevor. Zwar ist es nur ein einzelner Planet und nur eine fiktive Reise durch das Universum der immateriellen Datenströme. Doch jeder, der emotionelle Bindungen an seine Cyberheimat entwickelt hat, empfindet wohl ähnlich. Es heißt Abschied nehmen von der Geborgenheit eines proprietären Systems, wie es CompuServe für Dreamscape darstellte. Bald ist Schluß mit den flinken Reaktionszeiten einer Winsock-freien Onlineverbindung. Auf dem Weg durch den Binärkosmos reist unser Datenplanet ins neue Sonnensystem Internet - und wir alle reisen mit.
Selbst in der alten Heimat - Dreamscape 1 - ist eine Art wehmütiger Aufbruchstimmung zu spüren. Sitzen wir nicht alle schon auf gepackten Koffern? Haben wir nicht alle Angst, der beschwerliche Weg ins neue System könnte uns Teile unseres mühsam erworbenen Hab und Guts, ja, vielleicht sogar unsere Existenz kosten? Werden wir am Ziel noch die sein, die wir waren? Wird nicht alles schlechter sein als es war - langsamere Verbindungen, größere Probleme beim Einloggen?
Konkret läßt sich bei Spaziergängen durch die Straßen von Phantasus nichts feststellen. Die meisten kümmern sich nicht um das Thema. Viele haben noch nicht einmal etwas vom anstehenden Umzug ins Internet gehört. Die Chats klingen wie immer. Die Themen und Interessen sind die selben. Der Platz vor der Spielhalle ist unverändert gut besucht - von den zahllosen Turf-Casinos ganz zu schweigen. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein? Projiziere meine Gefühle auf meine virtuelle Heimatstadt? Wer weiß.
Manchmal stoße ich auf jemanden, der sich die gleichen Gedanken macht wie ich, der so empfindet wie ich. Die meisten Gesinnungsgenossen treffe ich dann auch in Dreamscape 2.0 und WorldsAway 2.0 wieder, wo wir uns gemeinsam den Unwägbarkeiten, Überraschungen und Frustrationen einer Beta-Umgebung aussetzen. Wie kommt es, daß ich im recht schlicht gestalteten Hotel von WA 2.0 den Verlust einer komplett eingerichteten Vierzimmerwohnung (mit Tischen!) und eines Barguthabens von über 1000 T relativ gefaßt hinnehme, während ich beim gleichen Vorgang in DS 1.0 Zeter und Mordio schreien würde? Wieso ertrage ich es, mit dem Beta-Client alle 30 Sekunden abzustürzen? Was gibt mir die Geduld, die komplette DS 2.0-Welt bereits zum vierten Mal komplett herunterzuladen?
Die Antwort darauf habe ich lange selbst nicht gekannt. Simple Abenteuerlust und Experimentierfreude genügen nicht als Erklärung. Anderen Online-Welten gegenüber habe ich nicht so viel Geduld aufgebracht. Die Erkenntnis schließlich war unangenehm für mich, denn sie führte mir vor Augen, wie sehr ich bereits an meiner Online-Existenz hänge. Sich die neue Heimat so früh wie möglich zu erschließen - tunlichst, solange die alte Welt noch als rettender Hafen existiert - ist ein untrügliches Zeichen für die Angst, mich im neuen Zuhause nicht richtig einleben zu können und letztendlich als virtueller Heimatloser im luftleeren Raum zwischen den Welten zu verenden.
Bislang war ich mir relativ sicher, kein Cyberjunkie zu sein. In meine materielle Existenzebene bin ich aktiv und intensiv eingebunden. Und doch: Wer so viel Aufwand betreibt, sein virtuelles Dasein vor Irritationen zu bewahren, wem der Gedanke an eine online-isolierte Phase Adrenalingeschmack auf die Zunge zaubert, der sollte seine Einstellung zum eigenen Surfverhalten einer neuen Prüfung unterziehen. Unvoreingenommen - wenn möglich. Ich sollte einmal mit Lucy P.J. reden. Ist sie in der materiellen Welt nicht Psychologin?