Titelbild ... Übrigens: Der nächste AVATAR erscheint am 1. November 1997!

Virtuelle Hochzeiten - Firlefanz oder Zukunftsvision?
von Nexo of Kystone

Man kann nicht wirklich sagen, daß Corinna ihren Steve Shy bis zur Hochzeit noch nie in seiner Real-World-Gestalt gesehen hat. Man kann allerdings auch nicht sagen, daß sie ihn in der materiellen Welt "kennengelernt" hat. Alles, was sie von seiner körperlichen Existenzebene kennt, ist ein Foto auf Steve's Homepage. Mehr aus dem körperlichen Spektrum war nicht nötig, um sich vor Acolyte Michael das Jawort fürs virtuelle Leben zu geben.

Diese konsequente Variante der Online-Eheschließung ist eher selten. Die meisten Vermählungswilligen kennen sich aus der körperlichen Welt, sei es als Paar, sei es als Freunde oder Kollegen. In beiden Fällen - ob nach körperlicher Bekanntschaft oder nicht - stellt sich die Frage: Wozu das Ganze?

Steves und Corinnas Trauung war Teil einer Doppelhochzeit, zusammen mit SunRay Hawkmoon und Sitira. Beide Paare haben für ihr großes Ereignis ziemlichen Aufwand betrieben: Die Hochzeitsgäste fanden sich in einem eigens für den Anlaß gemieteten Hochzeitsturf wieder, liebevoll und prächtig dekoriert und reichhaltig mit Speisen und Getranken für die Gäste ausgestattet. Die verwegen gestaltete Hochzeitstorte zeugte vom festen Willen der Brautleute, die Cyberhochzeit einem entsprechenden Ereignis in der körperlichen Welt so gleichrangig wie möglich entgegenzustellen.

Die Vorbereitungen zur Avatarvermählung beschränken sich beileibe nicht auf den virtuellen Raum. Allein das Dekorieren des Hochzeitsturfs muß Stunden in Anspruch genommen haben - ganz zu schweigen von den vielen Stunden der Planung und der Vorbesprechungen, Stunden der körperlichen Welt wohlgemerkt, und echte, harte Deutschmark für die Onlinezeit dazu. Dann sind da auch noch die virtuellen Kosten: Turfs können tageweise abgerechnet werden, dieser Aufwand ist vernachlässigbar. Anders sieht das bei den Anschaffungen aus: Für die nicht festgeklebten und von den Gästen mitgenommenen Items sowie für den Rückkaufverlust der zahlreichen Dekorationsgegenstände muß man bei vorsichtiger Schätzung etwa zwischen 1000 und 2000 Token ansetzen. In Gesellschaften mit einem funktionierenden Wirtschaftssystem, so, wie Dreamscape sie darstellt, sind auch die Kosten des Zeitaufwands zu berücksichtigen. Geht man von nur einer Woche Vorbereitung durch vier Personen aus, sind 14000 T hierfür sicher nicht zu hoch gegriffen. Rechnet man den Gesamtkosten von rund 16000 T die Hochzeitsgeschenke entgegen - was allerdings nur begrenzt korrekt ist - dürfte die Hochzeit nicht unter 12000 T gekostet haben, also 6000 T pro Paar. Volkswirtschaftlich gesehen, entsprechen 6000 T rund 100 Arbeitsstunden. Bezogen auf einen Arbeitsmonat mit der Basis von 38,5 Wochenstunden und einem daraus folgenden, monatlichen Arbeitsvolumen von 167 Stunden, hat jedes Paar das Einkommen von drei Arbeitswochen investiert. Virtuelle Hochzeiten - nur eine Spielerei?

Das Heiraten im virtuellen Raum ist ein
objektorientierter Vorgang. Entsprechend
erbt er seine Eigenschaften von über-
geordneten Objekten. Das übergeordnete Objekt einer Cyberheirat ist die Cyber-
existenz. Ihre hervorstechenden Eigen-
schaften sind: Idealisierung, Unschuld, Befreiung aus Verpflichtung und Verantwortung. Eine große Teilmenge daraus gilt auch für die virtuelle Ehe. Besonders die Idealisierung des Vorgangs wirkt sich intensiv aus - intensiver als bei der virtuellen Existenz an sich. Rufen wir uns doch die Gegebenheiten der körperlichen Eheschließung ins Gedächtnis: Dem Bund fürs Leben, geschlossen aus Liebe und Freundschaft, stehen zahlreiche artfremde Elemente entgegen: Koordination der Aufgabenverteilung. Planung des Kindersegens (wenn noch möglich). Festlegung des wirtschaftlichen Rahmens - von der Mitgift bis zum beruflichen Zehnjahresplan. Festlegung der Konditionen für das eventuelle Scheitern der Verbindung. Und schließlich - als krönender Tiefpunkt - die Klärung der steuerlichen Gegebenheiten.

All dies entfällt beim Heiraten auf virtuellen Welten. Die Ehe darf sich den Elementen widmen, für die sie eigentlich geschlossen wurde: Liebe und Freundschaft. Das Alltagsmonster, das in der körperlichen Welt so viele leidenschaftliche Verbindugen zwischen seinen grauenhaften Fängen Karrierestreß, Kinderdurchfall und Hypothekenzins zermalmt, hat im virtuellen Universum keine Macht. Ist die Basis für die Eheschließung Liebe, wirkliche und selbstlose Liebe, wird die Verbindung bestehen bleiben, bis das Systemende den Schlußpunkt setzt.

Die Unschuld ergibt sich schon aus der köperlosen Existenzform einer virtuellen Ehe. Auch Verbalerotik wird daran nicht viel ändern können. Eine Cyberehe bleibt - vorerst - kinderlos. Die Diskussion darüber, ob dieser Umstand Fluch oder Segen bedeutet, hängt ganz von den Diskussonsteilnehmern ab. Das Streitgespräch zwischen einem Computerfachmann und einem Pfarrer wird sicher einen ganz anderen Verlauf nehmen als das zwischen einem Familienberater und einer ins Frauenhaus geflüchteten Mutter. Lassen wir es vorerst dabei.

Übrigens: Der nächste AVATAR erscheint am 1. November 1997 !

Zwei vererbbare Elemente unserer Aufzählung sind noch unerwähnt geblieben: Befreiung aus Verpflichtung und Verantwortung. Die Klärung der Frage, ob auch sie für virtuelle Ehen gelten sollen, entscheidet letztendlich darüber, ob Cyberhochzeiten ein ernstzunehmender sozialer Vorgang sind oder doch nur die unterhaltsame Umgruppierung bunter Pixel. Auch virtuelle Ehepartner schweben nicht im luftleeren Raum. Da gibt es ein Wesen, dem man nahe ist und das Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten unterworfen ist wie man selbst. Diesem Wesen hat man Schutz und Beistand geschworen (ja: geschworen!), in guten und in schlechten Zeiten, gültig für die virtuelle Existenz. Dieses Versprechen vereinigt Verantwortung und Verpflichtung gegenüber einem geliebten Menschen - ob virtuell oder nicht - zu einem globalen Bekenntnis. Wer weniger in Cyberehen sieht, sollte die Finger davon lassen und lieber am nächsten Turfdekorationswettbewerb teilnehmen. Macht ja auch Spaß.



Eure Meinung? Euer Kommentar? Eure Anregungen?
Für alles ist Raum im Forum des AVATAR!